02 Titan
vorhatte, andernfalls ergab seine Untätigkeit keinen Sinn. Aber was? Das war das Geheimnis.
Ende Januar war Ciceros erster Monat als Vorsitzender des Senats vorüber. Hybrida nahm auf dem kurulischen Stuhl Platz, und Cicero widmete sich seiner Arbeit als Anwalt. Wenn er jetzt zum Forum hinunterging, begleiteten ihn statt der Liktoren ein paar robuste Burschen aus der Ritterschaft. Atticus hatte Wort gehalten: Die Eskorte blieb zwar in Ciceros Nähe, hielt sich aber im Hintergrund. Niemand
hätte argwöhnen können, dass es sich nicht um Klienten des Konsuls handelte. Catilina hielt sich bedeckt. Wenn er und Cicero sich begegneten, was in den beengten Räumlichkeiten des Senats unvermeidbar war, wandte er ihm demonstrativ den Rücken zu. Einmal glaubte ich gesehen zu haben, wie er sich im Vorbeigehen mit dem Finger über die Kehle fuhr, was aber sonst niemand bemerkt zu haben schien. Unnötig zu erwähnen, dass Caesar die Freundlichkeit in Person war, er gratulierte Cicero sogar zu seinen kraftvollen Reden und seiner geschickten Strategie. Das war mir eine Lehre. Der wirklich erfolgreiche Politiker trennt die Privatperson von den Beleidigungen und Rückschlägen seines öffentlichen Lebens, so dass es fast den Anschein hat, als stießen sie einer anderen Person zu. Caesar hatte diese Eigenschaft wie kein anderer Mensch, dem ich je begegnet bin.
Dann traf eines Tages die Nachricht vom Tod des Pontifex Maximus ein, was keine große Überraschung war. Der alte Soldat Metellus Pius war schon auf die siebzig zugegangen und hatte schon mehrere Jahre gekränkelt. Nach seinem Schlaganfall auf dem Marsfeld war er nicht wieder zu Bewusstsein gekommen. Der Leichnam wurde in seinem offiziellen Amtssitz aufgebahrt, dem alten Königspalast, und als Cicero an der Reihe war, erfüllte er seine Pflicht als hoher Würdenträger und hielt Ehrenwache an der Leiche. Nie zuvor hatte ich derart aufwendige Trauerfeierlichkeiten erlebt. Aufgestützt auf der Seite liegend wie bei einem Abendessen, gekleidet in seine geistlichen Gewänder, wurde Pius auf einer mit Blumen geschmückten Sänfte von acht Pontifices seines Priesterkollegiums getragen, darunter Caesar, Silanus, Catulus und Isauricus. Das Haar war gekämmt und pomadisiert, die ledrige Haut war mit Öl eingerieben, die Augen standen weit offen – er machte jetzt einen weitaus lebendigeren Eindruck als zu Lebzeiten. Hinter der Totenbahre
gingen sein Adoptivsohn Scipio und seine Witwe Licinia Minor, denen die vestalischen Jungfrauen und die Hohen Priester der offiziellen Gottheiten folgten. Dann kamen die Wagen mit den Oberhäuptern der Metellus-Sippe mit Celer an der Spitze. Sie alle zusammen vorbeiziehen zu sehen – und obendrein die ihnen folgende Prozession der Schauspieler mit den Totenmasken von Pius’ Vorfahren – erinnerte einen daran, dass die Metelli immer noch die mächtigste politische Familie Roms waren. Der endlose Trauerzug bewegte sich über die Via Sacra, durch den Triumphbogen des Fabius (der zu diesem Anlass in schwarzes Tuch gehüllt war) und dann über das Forum zur Rostra, wo die Sänfte senkrecht aufgestellt wurde, so dass die Trauernden einen letzten Blick auf den Leichnam werfen konnten. Das Zentrum Roms war voller Menschen. Alle Senatoren waren in schwarze Togen gehüllt. Schaulustige drängten sich auf den Tempelstufen und Sockeln der Statuen, auf Balkonen und Dächern, und alle harrten aus, bis die Totenreden vorüber waren, obwohl diese mehrere Stunden dauerten. Es war, als wüssten wir alle, dass wir mit Pius – der ein harter, starrköpfiger, hochfahrender, unerschrockener und vielleicht ein bisschen dummer Mensch gewesen war – Abschied von der alten Republik nahmen und nun etwas anderes in seinen Geburtswehen lag.
Nachdem man Pius die Bronzemünze in den Mund gelegt und zur letzten Ruhe mit seinen Vorfahren gebettet hatte, stellte sich natürlich die Frage: Wer würde sein Nachfolger werden? Alle waren sich einig, dass die Wahl auf eines der beiden ältesten Mitglieder des Senats fallen müsse: auf Catulus, der den Tempel des Jupiter wieder aufgebaut hatte, oder auf Isauricus, dem zwei Triumphe gewährt worden waren und der sogar noch älter war als Pius. Beide wollten das Amt, und keiner würde dem anderen den Vortritt lassen. Sie pflegten eine zwar kameradschaftliche, aber dennoch
unerbittliche Rivalität. Cicero, der keinem den Vorzug gab, zeigte zunächst kein Interesse an dem Duell. Die Entscheidung lag ohnehin bei den vierzehn
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