02 Titan
Großteil seiner Arbeitszeit verbrachte. Und ich war es auch, der die seltenen Augenblicke ihrer gemeinsamen Freizeit immer wieder störte, weil ich ihm stapelweise Briefe und Nachrichten von Klienten brachte. Trotzdem sprach sie diesmal ausnahmsweise höflich und fast freundschaftlich mit mir. »Du musst ihm zureden«, sagte sie. »Manchmal glaube ich, du bist der Einzige, dem er überhaupt zuhört. Ich kann nur für ihn beten.«
Als am nächsten Morgen immer noch keine Nachricht von Sanga eingetroffen war, begann ich mir Sorgen zu machen,
dass Cicero zu nervös sein könnte, um seine Rede zu halten. Eingedenk Terentias Bitte, schlug ich ihm vor, eine weitere Vertagung zu beantragen. »Bist du verrückt?«, fauchte er mich an. »Schwäche zu zeigen ist das Letzte, was ich mir jetzt erlauben darf. Ich schaffe das. Ich habe es immer geschafft.« Trotzdem hatte ich ihn zu Beginn einer Rede nie so zitterig gesehen oder so leise sprechen hören. Obwohl riesige Wolkenbänke über Rom hinwegzogen und gelegentlich Regenschauer über dem Tal niedergingen, war das Forum bis auf den letzten Platz gefüllt. Es herrschte große Unruhe. Überraschenderweise sprühte Ciceros Rede vor Witz, als er auf denkwürdige Weise Charakter und Qualitäten der ums Konsulat streitenden Servius und Murena gegenüberstellte.
»Du stehst vor Tagesanbruch auf, um deine Klienten um dich zu scharen«, sagte er zu Servius, »er schart seine Armee um sich. Dich weckt der Hahnenschrei, ihn der Ruf der Trompeten. Du bereitest einen Prozess vor, er bereitet die Schlachtreihen zum Kampf. Er weiß sich vor feindlichen Truppen zu schützen, du vor Regenwasser. Er war damit beschäftigt, Grenzen auszuweiten, du, sie zu ziehen.« Die Geschworenen waren begeistert. Noch ausdauernder war ihr Gelächter, als er sich über Cato und dessen rigide Philosophie lustig machte. »Bei einer Sache könnt ihr ganz sicher sein, diese überirdischen Qualitäten, die wir an Cato bemerken, die liegen ganz in seinem Wesen; seine Fehler jedoch, die sind nicht seiner Natur, sondern seinem Lehrmeister geschuldet. Einst lebte nämlich ein genialischer Mensch namens Zenon, und die Jünger seiner Lehren nennen sich Stoiker. Einige seiner Prinzipien lauten folgendermaßen: Der Weise lässt sich weder von einer Gefälligkeit leiten, noch verzeiht er jedweden Fehler; nur ein Idiot verspürt Mitgefühl; alle Verbrechen sind gleich; sorglos einen Hahn zu töten ist nicht weniger verbrecherisch, als seinen Vater zu
erwürgen; der Weise mutmaßt nie, bereut nie, hat niemals Unrecht, ändert nie seine Meinung. Unglücklicherweise hat sich Cato diese Glaubenssätze nicht nur zum Gegenstand von Diskussionen erkoren, sondern er richtet sein Leben danach aus.«
»Was ist er doch für ein Witzbold, unser Konsul«, höhnte Cato mit lauter Stimme in das allgemeine Gelächter hinein. Aber Cicero war noch nicht fertig.
»Zugegeben, auch ich habe in jüngeren Jahren einiges Interesse für die Philosophie gehegt. Allerdings hießen meine Lehrmeister Platon und Aristoteles. Sie vertreten keine hitzigen oder extremen Ansichten. Sie sagen, dass den Weisen manchmal auch eine Gefälligkeit leiten kann, dass ein guter Mensch Mitgefühl zeigen kann, dass die Arten von Vergehen wie auch deren Bestrafung verschieden sind, dass der Weise oft Mutmaßungen anstellt, wenn er die Tatsachen nicht kennt, dass er manchmal zornig wird und manchmal verzeiht und manchmal auch seine Meinung ändert und dass das sogenannte Mittelmaß alle Tugend vor Ausschweifung bewahrt. Wenn du diese Lehrmeister studiert hättest, Cato, dann wärst du vielleicht kein besserer, kein mutigerer Mensch, das ist unmöglich, aber du würdest vielleicht ein klein wenig mehr Milde zeigen.
Du sagst, öffentliches Interesse habe dich zu dieser Klage getrieben. Daran zweifle ich nicht. Aber du verrennst dich, weil du nie aufhören kannst zu denken. Ich verteidige Lucius Murena nicht aus Freundschaft, sondern um des Friedens, der Ruhe, Einheit und Freiheit, um unserer Selbsterhaltung, kurz, um unser aller Leben willen.« Dann wandte er sich an die Geschworenen. »Ehrwürdige Richter, hört auf euren Konsul, der Tag und Nacht nichts anderes tut, als über das Wohl der Republik nachzudenken. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass unser Staat am ersten Tag im Januar zwei Konsuln hat. Von Männern aus unserer Mitte sind Pläne geschmiedet
worden, die Stadt zu zerstören, ihre Bürger abzuschlachten, ihren römischen Namen auszulöschen. Ich
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