02 - Von dir kann ich nicht lassen
ganze Zeit bewusstlos geblieben und hatte so bleich ausgesehen, dass
sie mehrere Male mit kalten, zitternden Fingern seinen Puls kontrolliert hatte.
»Mörder
werden gehängt, wissen Sie«, hatte jemand vom Eingang des Schlafzimmers her
leicht belustigt gesagt.
»Am Hals,
bis der Tod eintritt«, hatte eine andere
Stimme
genussvoll hinzugefügt.
Sie war
in der Nacht geflohen, hatte nur so viel Habe und das Armband
natürlich, sowie das Geld, das sie aus dem Schreibtisch des Earl genommen hatte
dabei, dass sie mit der Postkutsche nach London gelangen konnte. Sie war nicht
geflohen, weil sie glaubte, dass Sidney sterben und sie des Mordes angeklagt
würde. Sie war geflohen, weil oh, es gab eine Vielzahl von Gründen.
Sie
hatte sich so allein gefühlt. Der Earl, der Cousin und Nachfolger ihres Vaters,
und die Countess waren zu einer Wochenendgesellschaft gefahren. Sie mochten sie
ohnehin nicht sehr. Es gab niemanden in Candleford, an den sie sich in ihrer
Not hätte wenden können. Und Charles war nicht zu Hause. Er war zu einem
längeren Besuch bei seiner älteren Schwester in Somersetshire aufgebrochen.
So war Jane
nach London geflohen. Zuerst hatte sie nicht daran gedacht, sich zu verstecken,
sondern nur daran, jemanden zu erreichen, der ihr wohlwollend gegenüberstand.
Sie war zu Lady Webbs Haus am Portland Place gegangen. Lady Webb war die beste
Freundin ihrer Mutter gewesen, seit sie als Mädchen gemeinsam debütiert hatten.
Sie war oft nach Candleford zu Besuch gekommen und war Janes Patentante. Jane
nannte sie Tante Harriet. Aber Lady Webb war nicht zu Hause gewesen und wurde
auch nicht allzu bald zurückerwartet.
Jane
war nun schon seit über drei Wochen wie gelähmt vor Entsetzen, voller Angst,
dass Sidney gestorben sei, voller Angst, dass sie seines Todes angeklagt würde,
voller Angst, dass sie eine Diebin genannt würde, voller Angst, dass man sie
von Gesetzes wegen suchen würde. Sie würden natürlich erfahren, dass sie nach
London gekommen war. Sie hatte nichts unternommen, um ihre Spuren zu
verwischen.
Das
Schlimmste von allem war während der letzten Wochen die Ungewissheit gewesen.
Die Gewissheit war letztendlich beinahe eine Erleichterung.
Die
Gewissheit, dass Sidney tot war.
Dass
die Geschichte so erzählt wurde, dass sie ihn getötet hätte, als er sie beim
Ausrauben des Hauses ertappte.
Dass
sie als seine Mörderin angesehen wurde.
Nein,
das war natürlich keine Erleichterung.
Jane
setzte sich jäh auf und rieb sich mit den Händen übers Gesicht. Ihre
schlimmsten Alpträume waren wahr geworden. Ihre größte Hoffnung hatte darin
bestanden, in den anonymen Massen gewöhnlicher Londoner untertauchen zu können.
Aber dieser Plan war zerschlagen worden, als sie sich so törichterweise in das
Duell im Hyde Park eingemischt hatte. Was hätte es sie kümmern sollen, dass
zwei Gentlemen, die keinen höheren Sinn in ihrem Leben sahen, sich gegenseitig
abknallen wollten?
Hier
war sie nun, in Mayfair, in einem der größten Herrenhäuser am Grosvenor Square,
als eine Art Pflegerin eines Mannes, der eine gewisse Befriedigung daraus zog,
sie allen seinen Freunden zu präsentieren. Natürlich kannte sie niemanden von
ihnen. Sie hatte in Cornwall ein zurückgezogenes Leben geführt. Es bestand die
Chance, dass keiner der Besucher des DudleyHauses während der nächsten
Wochen sie erkennen würde. Aber sie war sich dessen nicht ganz sicher.
Es war
gewiss nur eine Frage der Zeit ...
Sie
stand auf und durchquerte den Raum zum Waschständer auf zitternden Beinen.
Glücklicherweise befand sich Wasser im Krug. Sie goss ein wenig davon in die
Schüssel, tauchte die gewölbten Hände hinein und kühlte ihr Gesicht.
Was sie
tun sollte was sie von Anfang an hätte tun sollen , war, sich
einfach den Obrigkeiten zu stellen und auf Wahrheit und Gerechtigkeit zu
vertrauen. Aber wo waren die Obrigkeiten? Wohin sollte sie gehen, um dies zu
tun? Außerdem hatte sie den Anschein von Schuld erweckt, indem sie
davongelaufen und bereits länger als drei Wochen untergetaucht war.
Er
würde wissen, was sie tun könnte und wohin sie mit ihrer Geschichte gehen
sollte. Sie meinte den Duke of Tresham. Sie könnte ihm alles erzählen
und ihn den nächsten Schritt tun lassen. Aber der Gedanke an sein hartes,
mitleidloses Gesicht und seine Missachtung ihrer Gefühle ließen sie
erschaudern.
Würde
sie hängen? Konnte sie für Mord gehängt werden? Oder auch für Diebstahl?
Sie hatte wirklich keine Ahnung. Aber sie musste
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