02 - Winnetou II
werde; aber er tat es nicht, er blieb liegen, als ob er noch gefesselt sei, und sagte:
„Der Sohn der Comanchen ist doch nicht frei. Er will sterben. Stoß ihm dein Messer in das Herz!“
„Dazu habe ich keinen Anlaß und nicht die mindeste Lust. Warum soll ich dich töten?“
„Weil du mich überlistet und gefangengenommen hast. Wenn die Krieger der Comanchen es erfahren, werden sie mich von sich jagen und sagen: Erst hatte er die Medizin und den Namen verloren, und dann lief er in die Hände des Bleichgesichtes. Sein Auge ist blind und sein Ohr taub, und er wird niemals würdig sein, das Zeichen des Kriegers zu tragen.“
Er sagte das in so traurigem Ton, daß er mir wirklich leid tat. Ich konnte zwar nicht alle seine Worte verstehen, denn er sprach ein sehr mit Comanchen-Ausdrücken gespicktes Englisch; aber was ich nicht verstand, das suchte ich zu erraten.
„Unser roter Bruder trägt keine Schande auf seinem Haupt“, sagte ich schnell, ehe Old Death antworten konnte. „Von einem berühmten Bleichgesicht, wie Koscha-pehve, überlistet zu werden, ist keine Schande, und übrigens werden die Krieger der Comanchen es nie erfahren, daß du unser Gefangener gewesen bist. Unser Mund wird darüber schweigen.“
„Und wird Koscha-pehve dies bestätigen?“ fragte der Indianer.
„Sehr gern“, stimmte der Alte bei. „Wir werden tun, als ob wir uns ganz friedlich getroffen hätten. Ich bin euer Freund, und es ist kein Fehler von dir, wenn du offen zu mir trittst, sobald du erkannt hast, daß ich es bin.“
„Mein weißer, berühmter Bruder spricht Worte der Freude für mich. Ich traue seiner Rede und kann mich erheben, denn ich werde nicht mit Schimpf zu den Kriegern der Comanchen zurückkehren. Den Bleichgesichtern aber werde ich für ihre Verschwiegenheit dankbar sein, solange meine Augen die Sonne sehen.“
Er erhob sich in sitzende Stellung und tat einen tiefen, tiefen Atemzug. Seinem dick beschmierten Gesichte war keine Gemütsbewegung anzusehen, aber doch bemerkten wir sofort, daß wir ihm das Herz erleichtert hatten. Natürlich überließen wir es dem erfahrenen Scout, die Unterhaltung mit ihm fortzusetzen. Der Alte zögerte auch gar nicht, dies zu tun. Er sagte:
„Unser roter Freund hat gesehen, daß wir es gut mit ihm meinen. Wir hoffen, daß er uns auch als seine Freunde betrachten und also meine Fragen aufrichtig beantworten werde.“
„Koscha-pehve mag fragen. Ich sage nur die Wahrheit.“
„Ist mein indianischer Bruder allein ausgezogen, vielleicht nur, um einen Feind oder ein gefährliches wildes Tier zu erlegen, damit er mit einem neuen Namen in sein Wigwam zurückkehre? Oder sind noch andere Krieger bei ihm?“
„So viele, wie Tropfen da im Flusse laufen.“
„Will mein roter Bruder damit sagen, daß sämtliche Krieger der Comanchen ihre Zelte verlassen haben?“
„Sie sind ausgezogen, um sich die Skalpe ihrer Feinde zu holen.“
„Welcher Feinde?“
„Der Hunde der Apachen. Es ist von den Apachen ein Gestank ausgegangen, welcher bis zu den Zelten der Comanchen gedrungen ist. Darum haben sie sich auf ihre Pferde gesetzt, um die Coyoten von der Erde zu vertilgen.“
„Haben sie vorher den Rat der alten, weißen Häuptlinge gehört?“
„Die betagten Krieger sind zusammengetreten und haben den Krieg beschlossen. Dann mußten die Medizinmänner den großen Geist befragen, und die Antwort Manitous ist befriedigend ausgefallen. Von den Lagerstätten der Comanchen bis zum großen Flusse, welchen die Bleichgesichter Rio Grande del Norte nennen, wimmelt es bereits von unsern Kriegern. Die Sonne ist viermal untergegangen, seit das Kriegsbeil von Zelt zu Zelt getragen wurde.“
„Und mein roter Bruder gehört zu einer solchen Kriegerschar?“
„Ja. Wir lagern oberhalb dieser Stelle am Fluß. Es wurden Kundschafter ausgesandt, um zu untersuchen, ob die Gegend sicher sei. Ich ging abwärts und kam hierher, wo ich die Pferde der Bleichgesichter roch. Ich kroch zwischen die Büsche, um ihre Zahl zu erfahren; da aber kam Koscha-pehve über mich und tötete mich für kurze Zeit.“
„Das ist vergessen, und niemand soll davon sprechen. Wie viele Krieger der Comanchen sind es, welche da oben lagern?“
„Es sind ihrer grad zehnmal zehn.“
„Und wer ist ihr Anführer?“
„Avat-vila (Der große Bär), der junge Häuptling.“
„Den kenne ich nicht und habe seinen Namen noch niemals gehört.“
„Er hat diesen Namen erst vor wenigen Monaten erhalten, weil er in den Bergen
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