02 Winter am Ende der Welt
Annas Zuhause, also für das blaue Flusshaus, in dem ich im Moment wohne.
Der Umschlag ist von Clara. Sie hat mir ein Buch von sich geschickt. Clara produziert diese Bücher in einer erstaunlichen Folge, und weil es diese Kitschromane sind, werden sie in der gleichen erstaunlichen Folge veröffentlicht. Alle zwei Monate eins. In einer vernünftigen Auflage. Und Clara kann in der Tat ganz gut davon leben. Ich kenne von Clara Liebe mit Hindernissen und Liebe auf Umwegen und Liebe in Lissabon . Aber ich weiß, dass sie noch sehr viel mehr von diesen Titeln hat. Das Wort Liebe im Titel ist sozusagen Claras Markenzeichen. Dieses hier ist schon ein paar Jahre alt und hat den Titel Liebe und Lüge. Clara hat mir eine Widmung reingeschrieben.
War da nicht mal was??? In Liebe, Clara.
Kryptisch. Was soll denn das bedeuten? Ich lege das Buch auf den Umschlag und sehe die Briefe durch.
Tiago hat mir geschrieben, das ist nett, endlich mal, ich habe schon eine Weile nichts von ihm gehört. Von meinem Kleinen, der ja jetzt auch schon groß ist. Von Nicole höre ich eigentlich andauernd was, schon auf Facebook. Aber Tiago meldet sich selten.
Ein Brief von Anna. Und ein Brief von Jorge.
Der Brief von Jorge ist auch erstaunlich lange unterwegs gewesen. Nicht so lange wir der von Jan an Anna, aber doch lange. Ich sehe noch mal auf den Poststempel und fange an zu rechnen. Jorge hat den Brief zwei Wochen nach meiner Abreise geschrieben. Der Brief hätte mich also schon viel früher erreichen müssen. Und dann sehe ich, der Brief war gar nicht so lange unterwegs. Er hat die ganze Zeit hier auf der Post gelegen. Mir wird klar: Dieser Brief hat hier im Postamt darauf gewartet, dass ich ihn abhole. Was ich ja aber nicht wusste, und nun bekomme ich ihn erst jetzt, Wochen später. Und der Gedanke zu spät geht mir durch den Kopf. Ich denke, zu spät? Zu spät wofür? Und dann öffne ich endlich den Brief.
Jorge hat den Brief mit der Hand geschrieben, in seiner ordentlichen Schrift, eigentlich erstaunlich für einen Professor, Leute, die viel schreiben, schreiben oft unleserlich. Aber nicht Jorge. Er hat eine schöne Schrift und ich sehe ihn in Gedanken da in Lissabon in seinem Arbeitszimmer sitzen, an dem großen Schreibtisch, der immer und aber auch immer übervoll mit Papieren ist. Die Jalousien sind heruntergezogen, aber schräg gestellt, und Sonnenlicht fällt in Streifen auf das Chaos. Papiere auf dem Schreibtisch, Papiere neben dem Schreibtisch, gestapelte Bücher an der Seite und neben dem Stuhl. Bücher quer in den Regalen.
Ich sehe, wie sein Füller über das Papier läuft, Jorge schreibt immer noch mit Füller, er lehnt Kugelschreiber oder Roller nicht ab, soll jeder so schreiben, wie er will. Aber er hängt an seinem Füller. Schwarze Tinte. Unliniertes Papier.
Meine liebe Jasmin,
in Lissabon ist es kalt geworden. Und dieses Jahr ist der Winter ungewöhnlich kalt. José vom Café hat nach dir gefragt, er wollte von mir wissen, wie es der Dona Jasmina geht, und ob sie wohl bald wieder kommt. Und ich habe gar nicht gewusst, was ich ihm antworten sollte.
Wie wird es dir wohl gehen, wenn du diese Zeilen liest? Wie dein Leben wohl aussieht ... Miguel und Anna waren neulich in Lissabon zu einem Konzert im Gulbenkian und wir haben uns am nächsten Tag zum Essen getroffen. Anna hat von ihrem Haus in Kanada erzählt und von dem Dorf am Ende der Welt und so habe ich doch ein bisschen eine Vorstellung davon, wie du jetzt so lebst.
Ich denke viel an dich. Die Wohnung ist leer und mir wird klar, ich habe wohl nicht immer ausgedrückt, wie sehr ich zu würdigen weiß, was du hier für den Haushalt leistet. Für die Kinder. Für mich. Ich weiß, dass ich viele Fehler gemacht habe, und ich hoffe, dass du mir vielleicht doch noch mal verzeihen kannst.
In Liebe, dein Jorge
Ich lese den Brief zweimal und seufze. Dann mache ich Tiagos Brief auf. Im Brief ein Foto von ihm und einem netten Mädel, krause schwarze Haare, bunter Schal, der wie selbstgestrickt aussieht. Auf der Rückseite Tiagos Schrift: Liebe Mama, das ist die Carlota, ich habe sie im Chapitô kennengelernt und wir sind dabei uns eine Wohnung zu suchen. Im Mai wird geheiratet. Tiago
Ich fasse es nicht, mein Kleiner will heiraten, und das so schnell und unüberlegt, und dann bin ich womöglich wirklich bald Oma. Ich öffne Annas Brief.
Liebe Jasmin,
jetzt bist du in dem Haus, in dem ich so oft mit Jan war. Wie geht es dir? Es ist der perfekte Ort, um
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