02 Winter am Ende der Welt
Ich seufze nochmal. Ich versuche nicht, diesen Quilt und mein Leben jetzt irgendwie zu vergleichen. Oder anders: Ich versuche, diesen Quilt und mein Leben jetzt irgendwie nicht miteinander zu vergleichen. Ich glaube, meine Seele braucht eine Ruhepause. Dafür sind Claras Bücher doch eigentlich perfekt. Ich schlage das Buch auf und fange an zu lesen.
Da ist dieses junge Mädchen oder besser diese junge Frau, Johanna Bauer. Johanna kommt aus einer kleinen Stadt in Schleswig-Holstein. Die letzten Jahre hat sie ihre kranke Mutter gepflegt. Jetzt ist die Mutter gestorben und Johanna kommt nach Hamburg, um dort den Mann zu finden, der ihrer Mutter das Herz gebrochen und damit ihr Leben zerstört hat. Den Mann, der ihr Vater ist. Er kennt Johanna nicht – aber er wird sie kennenlernen.
Ach ja, ach ja, ach ja, das klingt vielversprechend. Ich seufze und falle in Johannas Welt.
Am nächsten Vormittag bringt Carl einen Elch-Eintopf und kocht mir eine große Kanne Earl Grey, sitzt ein bisschen bei mir am Bett und unterhält mich mit Storys von The Road.
Am Nachmittag kommt Jeff und bringt mir eine Schüssel roten Wackelpeter. Wir essen den Wackelpeter mit Sprühsahne aus der Dose und Jeff sagt, tut ihm leid, er hätte gerne was anderes gebracht, aber er kann nicht so richtig kochen, und meistens snackt er sich so durch oder isst Kathleens Take-out. Was mich dazu bringt ihn zu fragen, was mit seiner Frau passiert ist. So arbeitet der menschliche Kopf – Jeff sagt Kathleen und Take-out und mein Kopf macht die Kette: Jeff, Kathleen, Take-out gleich telefonische Bestellung gleich Telefonzelle gleich belauschtes Gespräch.
„Woher weißt du, dass meine Frau tot ist?“, sagt Jeff erstaunt.
„Von Kathleen“, sage ich.
„Kathleen hat mir dir über meine Frau geredet?“, sagt Jeff.
Sein Gesicht wird verschlossen. Und ich möchte jetzt natürlich nicht, dass Kathleen da Ärger mit ihm bekommt, denn sie hat ja nicht mit mir über seine Frau geredet. Sondern mit ihm.
„Äh – nicht direkt“, sage ich.
„Nicht direkt?“, sagt Jeff.
Ich sage nichts, ich überlege.
„Die Telefonzelle“, sage ich nach einer Weile.
„Die Telefonzelle?“, fragt Jeff.
Dann lacht er und schüttelt seinen Kopf.
„Klar, die Telefonzelle. Hab davon gehört.“
„Du willst nicht drüber reden“, sage ich.
„Nein“, sagt Jeff. „Will ich nicht. Soll ich dir was vorlesen?“
Er nimmt Claras Buch und schlägt es an der Stelle auf, wo mein Lesezeichen steckt. Ich verwende als Lesezeichen ein Foto von mir und Jorge. Ein Foto aus glücklichen Tagen. Jorge und ich am Strand von Melides. Ich trage ein buntes Sommerkleid, Jorge ist in Shorts. Wir sehen entspannt und glücklich aus und sind es wohl auch gewesen. Mein Gott, wie jung wir waren.
Jeff sieht das Lesezeichen, sieht sich das Foto an.
„Das ist nicht gesund“, sagt Jeff. „Das Leben geht weiter. Man muss auch loslassen können.“
„Sieh an, wer spricht“, sage ich und Jeff klappt das Buch wieder zu.
„Also gut“, sagt er und erzählt mir von seiner Frau.
Seine Frau hieß Louise. Sie haben in Vancouver gewohnt, draußen in Burnaby. Es ging ihnen gut. Jeff hat für eine Computerfirma gearbeitet und Louise in einer Boutique in der Robson Street. Sie gehen ins Kino, es ist Sonntag-Nachmittag. Und als sie aus dem Kino kommen, ist da eine Schießerei. Zwischen fliehenden Bankräubern und der Polizei. Und Louise war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.
„Oh mein Gott, Jeff“, sage ich. „Das ist furchtbar.“
„Ja“, sagt Jeff. „Das ist furchtbar. Furchtbar. Sinnlos.“
„Kinder?“, frage ich.
„Eine Tochter“, sagt Jeff. „Sie war vierzehn. Sie stand direkt neben Louise. Sie waren beide sofort tot.“
„Oh mein Gott, Jeff“, sage ich. „Jeff, das tut mir so leid.“
Jeff guckt zur Seite, dann nimmt er wieder das Buch in die Hand und will anfangen zu lesen. Aber – das Buch ist auf Deutsch. Schade eigentlich, denn sonst könnten wir jetzt beide in der Welt von Johanna Bauer versinken. Denn das ist das Schöne ans Claras Büchern: Johanna kann jetzt hier so viel leiden, wie sie will und muss, am Ende wird die Liebe siegen und Johanna wird es gut gehen. Ach, wenn das doch im Leben auch so wäre!
Also liest Jeff ein bisschen aus Cool Career for Dummies vor und dann muss er los, ein Kunde hat Ärger mit seiner Webseite und Jeff muss sich kümmern. Er kocht mir noch einen Kamillentee und stellt ihn mir ans Bett.
„Jeder, der hier wohnt, hat
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