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02 Winter am Ende der Welt

02 Winter am Ende der Welt

Titel: 02 Winter am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annegret Heinold
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nach einer passenden Hutnadel. Sie nahm die Nadeln in die Hand und sah sie versonnen an. Silber oder gold? Verziert oder schlicht? Wusste ihr Vater von ihr oder nicht? Wenn er nicht von ihr gewusst hatte, konnte man ihm schlecht vorwerfen, dass er sich nicht um sie gekümmert hatte.
    Aber wenn er von ihr gewusst hatte, warum hatte er sich dann nicht um sie gekümmert? Johanna seufzte und nahm die silberne Hutnadel und steckte sie in das Ripsband am Hut. Allerdings, wenn er doch von ihr gewusst hatte und sich nicht gekümmert hatte, dann war das, dann war das eine ...
    In diesem Moment ging das Telefon und Johanna steckte die beiden anderen Hutnadeln einfach in ihre Weste und ging zum Tisch vorne im Laden. Sie nahm den Hörer ab. Wer rief um diese Zeit noch an?

VII
     
    Ist ja irre, wie so ein Song aus der Vergangenheit einen aus den Puschen hauen kann. Da spielen sie Smooth Operator im Radio und mir bleibt fast das Herz stehen. Hallo die Enten. Das haut mich echt um. Und zwar so richtig. Ich höre den Song und falle in das Jahr neunzehnhundertvierundachtzig. Da haben sie den Song ja andauernd im Radio gespielt.
    Ich bin in Lissabon. Wir wohnen jetzt seit fast zwei Jahren in Lissabon, die Stadt fasziniert mich noch immer, sie ist mir manchmal noch fremd und dann an einigen Tagen doch schon ganz vertraut, es ist Mai, es ist warm, und überall blüht der Jacaranda. Lila Blüten. Bald werden die grünen Blätter rauskommen und die lila Blüten auf die Bürgersteige regnen. Jorge und ich schieben eine kleine Nicole im Kinderwagen durch den Estrela Park, auf den Parkbänken sitzen alte Frauen und häkeln, ein Mann sitzt auf einem Klappstuhl und spielt Akkordeon, Kinder jagen sich schreiend über den Rasen, und ehe ich mich versehe, sitze ich auf dem Sofa und heule wie ein Schlosshund. Oder Schoßhund? Wieso eigentlich Schlosshund? Vielleicht wie ein Schloss- und Schoßhund. Mit anderen Worten: ich fühle mich wie Peppermint ohne Prozac. Ich tue mir leid. Es geht mir schlecht. Der größte Teil meines Lebens liegt hinter mir und der Teil, der noch vor mir liegt, ist ein großes schwarzes Loch. Vor mir liegt nichts, nichts, nichts auf das ich mich freuen kann.
    Eine einsame Zukunft. Eine ältere Frau alleine. Womöglich in sogenannten sensible shoes auf Reisen, wo ich andere alleinstehende ältere Frauen treffe. Und abends trinken wir gemeinsam Kamillentee. Oha. Oha.
    Ich brauche Clara. Ich schaffe es gerade noch bis zum Computer. Ich skype SOS und Clara ist auf dem Bildschirm.
    „Was ist los?“, fragt Clara.
    „Unglück“, sage ich. „Es geht mir schlecht, ich weiß nicht ein noch aus, ich bin deprimiert.“
    „Neunzig Sekunden“, sagt Clara. „Zeit läuft.“
    Ich sehe in die Kamera.
    „Das ist die Theorie“, sagt Clara. „Lass dich neunzig Sekunden in das Gefühl fallen, und dann aber raus damit aus dem Blut. Los geht´s, Zeit läuft. Jetzt darfst du klagen.“
    Wie, jetzt soll ich so aus dem Stand klagen. Aber was heißt hier aus dem Stand, ich war doch eigentlich so richtig mitten drin, und zack bin ich wieder voll drauf.
    „Ich bin über fünfzig“, sage ich. „Die Hälfte des Lebens ist vorbei und ich fange wieder bei nichts an. Mein Leben hat keinen Sinn, die Kinder sind aus dem Haus und ich habe keine Wohnung, keinen Ehemann, keinen Beruf, ich kann nichts, ich habe nichts gelernt, ich weiß nicht, wie ich ...“
    „Das war´s“, sagt Clara fröhlich. „Und jetzt loslassen.“
    Also ehrlich – Clara und Kalifornien – das scheint mir ja eine schöne Kombination zu sein.
    „Und nach vorne gucken“, sagt Clara.
    „Das ist es ja, das nach vorne gucken, das geht irgendwie nicht“, sage ich. Aber ein bisschen besser fühle ich mich schon.
    „Dann guck nach rechts und links“, sagt Clara. „Jeff, Carl, Dating-Sites ... „
    „Ach nö“, sage ich. Aber womöglich liegt es an diesem Kommentar von Clara, dass ich später tue, was ich tue, als Jeff am Abend vorbeikommt, und womöglich wäre es mir ohne Claras Kommentar nicht passiert.
    Am nächsten Tag versuche ich da natürlich nicht dran zu denken, aber wie das dann so ist, wenn man nicht dran denken will – schon denkt man dauernd dran. Also gut. Neunzig Sekunden das Gefühl zulassen und dann raus damit aus dem Blut. Aber ohne Clara, lieber hier nur ganz für mich alleine.
     
    Am Abend kam nämlich Jeff vorbei.
    Mit Popcorn, einer Flasche Rotwein und einem Päckchen, das ihm Mary von der Post mitgegeben hatte. Verstößt womöglich gegen

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