02 Winter am Ende der Welt
irgendwie seine Geschichte“, sage ich.
„Ja, das habe ich früher auch gedacht“, sagt Jeff.
„Und jetzt?“, frage ich.
„Jetzt denke ich: Jeder hat seine Geschichte“, sagt Jeff. „Egal, wo er wohnt, egal, was er macht. Hier bekommen wir es nur mehr mit. Weil es so ein kleines Dorf ist und jeder jeden kennt.“
Jeff geht. Ja, es stimmt, wir haben alle unsere Geschichte. Ich habe April übrigens gar nicht gefragt, warum sie schon wieder in die Stadt zum Arzt muss. Und Jeff, das ist wirklich ein hartes Schicksal. Ich nehme wieder Claras Buch in die Hand.
Ich denke: Armer Jeff. Arme April. Kleine süße Peppermint. Glückliche Catarina. Sexy Carl. Poor me. Poor me. Poor me ...
VI
Johanna sah sich in ihrem Atelier um. Sie konnte stolz auf sich sein. An den Wänden hingen an Nylonfäden cremefarben gebeizte Regalbretter vor einer hellbeigen Wand, so dass die Bretter in der Luft zu schweben schienen und wie von Zauberhand gehalten wirkten. Die Wand, in der sich die Eingangstür befand, war in einem dunklen Weinrot gestrichen und sah fabelhaft aus. Eine schöne Balance zu den Hüten in den Regalen.
„Schon toll, was man aus so einer alten Ladenwohnung in Winterhude machen kann“, sagte eine Stimme. Johanna drehte sich um und sah Elly. Elly war Anfang neunzig und sah keinen Tag älter aus als fünfundachtzig, wie sie mit Genugtuung zu sagen pflegte. Elly war auch sonst gut beieinander, eine bodenständige Winterhuderin, für die schon ein Ausflug nach Eppendorf oder Altona eine Reise in eine andere Welt bedeutete.
„Gefällt es dir?”, fragte Johanna.
„Ob es mir gefällt? Ach Kind – das ist wunderbar. Du bist eine wirkliche Künstlerin“, sagte Elly und Johanna spürte, wie gut ihr das Kompliment tat. Elly war so ganz anders als Johannas Mutter. Johannas Mutter hatte sie nie gelobt. Johannas Mutter hatte sich ihr Leben lang beklagt und nie konnte man es ihr recht machen. Und wenn sie je stolz auf Johanna gewesen war, so hatte sie es jedenfalls gut zu verbergen gewusst.
Johanna sah die Hüte an. Die Hüte saßen auf Köpfen aus Styropor, die sie an einem Glückstag in einem Friseurgeschäft entdeckt hatte, wo der Besitzer seinen Laden aufgab, weil er sich einfach nicht mehr lohnte. Jetzt trugen die gesichterlosen Köpfe Johannas Kreationen. Hüte aus Filz in so wunderbaren Farben wie Aubergine und Mauve, Petrol und Moos, Sand und Zinnober. Und schwarz, natürlich. Schwarz war immer noch der Klassiker. Johanna formte die Hüte und verzierte sie. Mit Bändern und Blumen, mit Anstecknadeln und Broschen, mit Federn und Tüll. Sie nahm einen sattlila Hut mit rotem Band und einem kleinen Blütengesteck in die Hand und gab ihn Elly.
„Ein Traum“, seufzte Elly und drehte den Hut in der Hand. „Ein Traum.“
Johanna wusste, dass Elly als Fischverkäuferin auf den Hamburger Wochenmärkten gut klar gekommen war, aber sie ahnte auch, dass Elly nie in ihrem Leben auch nur daran gedacht hatte, so einen Hut zu besitzen.
„Setz ihn auf.“
„Nein“, wehrte Elly ab. „Das kann ich nicht, der ist viel zu gut für mich.“
„Ach Elly“, sagte Johanna und setzte Elly den Hut einfach auf den Kopf und aus Elly der Marktfrau wurde im gleichen Moment eine Art Lady Elly.
„Er gehört dir.“
Elly nahm sofort den Hut wieder ab und gab ihn Johanna.
„Das kann ich nicht annehmen“, sagte Elly. „Der ist doch viel zu teuer.“
„Doch du kannst“, sagte Johanna. „Ohne dich würde es diesen Hut ja gar nicht geben.“
„Aber ich habe doch nichts an diesem Hut gemacht“, wunderte sich Elly.
„Oh doch“, sagte Johanna. „Oh doch. Du hast mir immer wieder Mut gemacht. Ohne dich hätte ich hier doch längst aufgegeben. Weißt du noch, der Tag, als der Maler nicht gekommen ist? Ich war kurz davor alles hinzuschmeißen und wieder nach Bad Bramstedt zurückzugehen. Und du hast Willy angerufen und der hat das hier ratzfatz gemalt. “
Elly setzte den Hut wieder auf und sah in den Spiegel.
„Wennste meinst“, sagte Elly etwas unsicher und sah weiter in den Spiegel. Der lila Hut passte perfekt zu ihren grauen Haaren und ihren grauen Augen.
„Und er steht dir so gut“, sagte Johanna.
„Keinen Tag über fünfundachtzig?“, fragte Elly.
„Wie Anfang achtzig“, sagte Johanna. „Wie Anfang achtzig.“
Als Elly wieder gegangen war, schenkte Johanna sich einen Kaffee ein und setzte sich hinter den alten Tisch aus Mahagoni. Auch ein Glücksfall. Der alte Tisch hatte eingestaubt einfach im
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