02 Winter am Ende der Welt
Filmen kennt. Die Gegend aus E-Mail für dich mit dem Kinderbuchladen und dem Wochenmarkt. Ich würde mich – genau wie all die anderen Touristen – auf der Treppe von dem Haus mit dem Appartement von Carry Bradshaw aus Sex and the City fotografieren lassen und ich würde zu Nero Wolfes Haus in der fünfunddreißigsten Straße gehen, für ein paar Minuten die Augen schließen und mich in das New York von Nero Wolfe und Archie Goodwin versetzen. Ich würde wenigstens einmal in meinem Leben den Broadway entlang gehen. Aber Jorge hat immer gesagt, er hat an New York kein Interesse. Dabei ist er heimlich in New York gewesen, all die Jahre. Ohne mich. Und irgendwie trifft mich das jetzt fast mehr als die Seitensprünge.
„Aber was hatte er denn für eine Wahl?“, sagt Maria Teresa, als sie mein geschocktes Gesicht sieht.
„Er hätte es mir sagen können“, sage ich.
„Dann hättest du ihn verlassen“, sagt sie.
„So habe ich ihn auch verlassen“, sage ich.
„Aber erst fünf Jahre später“, sagt sie.
„Und ist das nun ein Vorteil?“, sage ich.
„Das musst du wissen“, sagt Maria Teresa, „das musst du wissen.“
Über all dem vergesse ich doch in der Tat Carl abzusagen. Als es mir einfällt, ist es zu spät. Carl hat da draußen kein Telefon, ich kann da nicht eben mal anrufen. Und Auto fahren kann ich nach dem ganzen Tee auch nicht mehr. Mir wird plötzlich klar, woher dieser Ausdruck Er hat einen im Tee kommt. In diesem Fall sie, also ich. Ich kann Carl nur morgen Bescheid sagen, vorbeifahren und Bescheid sagen. Er wird sauer auf mich sein, verletzt, enttäuscht, vermutlich, aber es gibt nichts, was ich jetzt tun kann.
Ich quartiere Joana im Gästezimmer oben ein und meine Schwiegermutter im großen Doppelbett im Gästezimmer im Basement, da kann sie unten das Bad benutzen, da kommen wir uns am wenigsten in die Quere.
Dann liege ich in meinem Bett, unter meinem neuen Quilt, dreißig von mir zusammengenähte Quadraten in wunderhübschen Farben, und versuche zu schlafen. Es dauert eine ganze Weile, bis ich endlich einschlafen kann, weil in meinem Kopf das gleiche Patchwork herrscht wie in dieser Decke, nur nicht so geordnet. Ich denke an Carl und mein wieder verpatztes Date. An Jorges Mutter, die hier plötzlich aufkreuzt. Und an Joana. Jorges Tochter. Und an den Juwelier, der so großzügig ein fremdes Kind großzieht, während ich schon Mühe habe, dem Mädel Tee und Kekse anzubieten, und an New York und dass ich da immer mal hinwollte, und dass Jorge da einfach ohne mich hingefahren ist und dadurch dann natürlich auch an Jorge, und wie es ihm wohl mit dieser ganzen Geschichte und überhaupt geht, oder gegangen ist, und warum er es mir nicht gesagt hat, und ob er es mir hätte sagen sollen oder nicht, und an Anna und Clara und Catarina, und dass sie es alle gewusst haben, alle, alle, alle haben es gewusst, nur ich nicht, und dann denke ich wieder an Carl und an das verpatzte Date und an die Schwiegermutter und ...
Ich laufe über eine Wiese, hinten sieht man Johns Farm, ich bin auf dem Weg zu Carl, meine Schwiegermutter und Joana sind an meiner Seite. Plötzlich sehe ich, dass die Wiese gar keine richtige Wiese ist, sondern ein Sumpf, ein modriger Sumpf, gelbes Gras, das unter Wasser steht. Wir durchqueren den Sumpf, wir bekommen nasse Füße. Plötzlich sehen wir: In diesem Sumpf liegen lauter schlafende Hunde. Schlafende Hunde in allen Farben und Größen. Wilde Hunde, die kein Zuhause haben und eingeringelt im Sumpf schlafen.
Als wir an den Hunden vorbeigehen, heben sie kurz ihre Schnauze und sehen uns aus verschlafenen Augen an. Plötzlich schnappt einer der Hunde nach mir, erwischt fast meine Wade und ich wache auf.
Das war ein Traum.
Ein so offensichtlicher Traum, dass es geradezu peinlich ist. Ich bin auf dem Weg zu Carl – in Begleitung meiner Schwiegermutter (!) und Joana – und muss dazu eine sumpfige Wiese mit schlafenden Hunden durchqueren, die wir nicht wecken dürfen.
Jeez Louise.
Das ist ja sowas von offensichtlich. Ich brauche eine ganze Weile, bis ich endlich wieder einschlafen kann. Ich glaube, mein Herz schlägt ein bisschen zu schnell. Das macht bestimmt dieser Whiskey im Tee ... und den Traum werde ich nicht kommentieren ...
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INNEN / TAG – ZIMMERECKE MIT KAMIN
Ein großer Bär schläft vor einem Kamin, in dem ein Feuer brennt. Im Feuer steht ein großer Kessel aus schwarzem Eisen. Eine FRAU (ca. 50) rührt in dem Kessel und murmelt Zauberformeln
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