02 Winter am Ende der Welt
an die Anna geschickt?“, fragt meine Schwiegermutter.
„Ich hatte irgendwie Angst, dass es ihr wehtut“, sage ich.
Denn das war es doch, ich hatte Angst, dass dann die ganze Trauer wieder aufbricht. Ich will nicht, dass sie wieder in dieses tiefe schwarze Loch fällt. Ich möchte, dass es Anna gut geht. Auch jetzt noch, obwohl ich nicht mir ihr rede.
„Sieh an, sieh an“, sagt meine Schwiegermutter. „Da hast du also entschieden, was für die Anna gut ist.“
Sie legt mir den Brief auf den Schreibtisch und geht in die Küche. Sie hat nichts weiter gesagt, aber da hängen jetzt natürlich reichlich unausgesprochene Sätze in der Luft. Von wegen selber Sachen tun, die man anderen übel nimmt und so weiter und so fort. Ich sehe auf mein neues Glasbild mit der blauen Blume und dann auf Rugged Mountain. Rugged Mountain ist heute ganz besonders gezackt, finde ich, und die Schneegrenze scheint ein bisschen höher zu sein. Anscheinend taut es. Der Fluss ist dunkelgrün und ein paar Enten dümpeln auf dem Wasser in Richtung Inlet.
Ich drehe mich auf meinem Schreibtischstuhl und sehe in das Wohnzimmer statt aus dem Fenster. Da steht Joana und macht mit dem Besen ein paar Spinnweben oben in einer Ecke an der Decke weg. Sie hat einen Kopfhörer auf und summt irgendeine Melodie mit. Das Mädel kennt mich kaum und hat sich auf die weite Reise zu mir gemacht und macht hier auch noch Spinnweben in der Wohnzimmerecke weg. Das ist in der Tat doch supernett von ihr.
Meine Schwiegermutter erscheint und stellt mir einen neuen Kaffee hin, mit etwas Milch, ohne Zucker, genauso wie ich ihn immer trinke. Dann geht sie wieder in die Küche. Ich sehe wieder auf den Brief. Ich weiß immer noch nicht, was ich damit machen soll. Aber ich gehe zu Facebook und schreibe an Annas Pinnwand.
Jasmin an Anna: piep
Am Abend gehen wir zu der Veranstaltung im Motel. Drei Generationen Frauen, nicht blutsverwandt, jedenfalls nicht alle, aber vom Schicksal merkwürdig miteinander verkettet. April ist auch da und sogar Kathleen hat ihren Cookshack für den Abend geschlossen und ein hübsches Kleid angezogen, ich erkenne sie kaum wieder. Ohne ihre Schürze. Und die reizenden Herren Thompson und Lawrence sind auch da, zur Freude meiner Schwiegermutter. Und der Fahrer vom Gemüselaster und auch sonst viele Leute aus dem Dorf, im Grunde fast das ganze Dorf. Wer fehlt, ist die Band. Die sind nämlich einfach nicht gekommen.
Das macht aber nichts, davon lässt sich so eine Holzfäller-Sägewerk-Gemeinde nicht unterkriegen, die sind ganz anderes gewohnt, die wissen, wie man am Ende der Welt ohne Hilfe von der Außenwelt alleine zurechtkommt. Wie man improvisiert.
Noch vor kurzem hatten die doch nicht mal eine anständige Straße (wenn man denn The Road als anständige Straße bezeichnen will). Da wurde die Post eingeflogen. Da wurde der Alkohol jeden Freitag aus dem nächsten Dorf mit dem Boot geholt, weil es im Dorf keinen Alkohol zu kaufen gab. Da fuhr eine Abordnung Holzfäller fünfundvierzig Minuten bei Wind und Wetter das Inlet runter, im Sommer wie im Winter, und das nächste Inlet wieder hoch und kam Stunden später (gut gelaunt und innerlich gewärmt) zurück mit einem Boot, das so richtig schwer im Wasser lag, wegen der wertvollen Ladung, und von den anderen schon sehnlichst am Pier erwartet wurde. Da fuhr man Kolonne, wenn man wirklich mit dem Auto in die Stadt musste. Da wußte jeder Fahrer: Wenn du einen Holzlaster siehst, dann ziehst du besser den Kopf ein, denn wenn der Truck um die Ecke fährt, haut er dir das Verdeck von deinem Auto ab und so bleibt dein Kopf trotzdem dran. Da kamen die Nachrichten aus Vancouver auf Kassette, mit der Post, und wurden dann im Dorf abgespielt, mit zwei Tagen Verspätung.
April, Jeff und Carl sind längst die nächste Generation, Zugezogene, die sich aus irgendwelchen Gründen hier am Ende der Welt aufhalten. Genau wie ich. Aber es gibt sie noch, die alten Holzfäller, die Leute, die früher im Sägewerk gearbeitet haben, die Leute, die die alten Zeiten noch kennen.
Solche Leute lassen sich nicht so einfach unterkriegen.
Steve organisiert eine Gitarre. Chris hat eine Geige und kann sogar drauf spielen, das hat sie von ihrem irischen Vater gelernt. Der Mann, der die Pfannkuchen in der Kirche backt, hat auch eine Gitarre und kann auch drauf spielen. April – so stellt sich heraus – hat eine wunderbare Stimme. Und schon haben wir einen Abend mit irischer Musik vom Feinsten. Und einer
Weitere Kostenlose Bücher