020 - Die Blutgraefin
sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, atmete ich auf.
»Ich denke«, meinte das Mädchen, »dass ich von seinem Söhnchen künftig besser die Finger lasse.«
»Ja, das denke ich auch«, stimmte ich zu. »Lieben Sie ihn?«
Sie dachte nach. Schließlich gestand sie: »Ich glaube nicht. Er verschaffte mir Zutritt zu interessanten Kreisen, aber ich mochte ihn nur. Er wäre ein netter Junge ohne diesen Vater.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich kann ihn verschmerzen. Auf sein Geld war ich ohnehin nie scharf.«
»Haben Sie heute noch etwas Besonderes vor?« unterbrach ich sie.
Sie sah mich an, aber ich konnte ihren Blick nicht deuten.
»Nein«, stellte sie mit Bestimmtheit fest.
»Ich würde den Abend gern mit Ihnen verbringen«, erklärte ich.
Sie lächelte. »Fein.«
»Aber Sie sollten sich umziehen, Kindchen«, warf Madame ein. »Ihre Kleider liegen im Badezimmer.«
»Danke, Madame.«
Als Ornella den Raum verlassen hatte, meinte Madame:
»Kümmern Sie sich um sie. Sie ist Ihretwegen zurückgekommen.«
»Meinetwegen?« entfuhr es mir.
Sie nickte schwach. »Ja, sie kam ganz atemlos zurück und entschuldigte sich und bat mich höchst eindringlich, ich möchte sie an der Seance teilnehmen lassen. Sie sagte, wenn sie jetzt wegginge, dann würde sie Sie nicht wieder sehen.«
Madame lächelte.
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie kam zurück, weil sie fürchtete, mich nicht wieder zu sehen?«
Madame nickte. »Ja, und da sie von dem Herrn, der sie mitgebracht hatte, nicht erkannt werden wollte, borgte ich ihr das Kleid. Aber Sie haben sie wohl rasch erkannt, nicht wahr?«
»Sie haben recht, Madame«, gab ich zu, »an ihren schmutzigen Füßen …«
Ornella kam herein, wieder in ihren Jeans und dem gelben Pulli. Sie sah unglücklich aus. »Das ganze Haar ist voller Blut«, sagte sie mit einer Spur von Ekel in der Stimme.
»Madame, darf ich …?«
»Aber natürlich, Kindchen«, unterbrach sie Madame Ferenczek. »Ich kann mir denken, wie unangenehm das ist. Sie finden Badesalz und Handtücher und Kopfwaschmittel in dem Schrank rechts neben der Wanne.«
Ornella sah mich an. »Sie haben solange Zeit, nicht wahr?«
Ich nickte. »Wir haben keine Eile.«
Während Ornella badete, bereitete ich Tee für Madame. Ich war froh, dass noch Zeit blieb, mit ihr zu reden. Mir brannten eine Menge Fragen auf der Zunge. Madame fühlte sich schwach, aber sonst schien ihr nichts zu fehlen. Sie bat mich noch einmal, ihr im Detail die Vorgänge zu schildern, und lauschte meinem Bericht mit gespannter Aufmerksamkeit.
Schließlich schüttelte sie den Kopf.
»Bellamy zog sich zurück?«
Ich nickte zustimmend. »Die Stimme sagte: ›Ich bin nicht allein. Es ist stärker.‹ Und dann erschien dieses neue Bild, diese Frau in Weiß – und die Schreie, diese fürchterlichen Schreie. Es war, als wollte man Sie auseinander schneiden. Sie wanden sich am Boden. Aber wir konnten uns nicht rühren.«
»Es ist etwas in diesen alten Häusern hier«, murmelte sie,
»etwas, das stark ist und lebendig wird, wenn wir uns darauf konzentrieren. Etwas, das vielleicht seit Jahrhunderten darauf lauert, aufgeweckt zu werden. Anfang siebzehntes Jahrhundert, sagten Sie – und in jenem Haus, über das wir uns noch zuvor unterhielten?«
»Ja, diese Frau in Weiß …« begann ich.
Sie unterbrach mich: »Sie ist niemand anders als Erzsebéth Bathory, die Blutgräfin. Sie wohnte Anfang des siebzehnten Jahrhunderts mehrmals während ihrer Wienaufenthalte in diesem Haus und hat darin ihre schrecklichen Morde verübt.
Das Blut und die Schreie waren sicher von einer dieser Unglücklichen, die sie zu Tode folterte, um sich mit ihrem Blut ewige Schönheit zu erkaufen.«
»Daran dachte ich auch bereits«, stimmte ich zu. »Ich zweifle nicht daran, dass wir einen Blick in die Vergangenheit getan haben. Alles weist deutlich darauf hin. Aber etwas berührt mich mehr als alles andere: diese Materialisation des Blutes.«
»Es ist mein Blut«, sagte sie. »Mein Ektoplasma – die Substanz war von meinem Körper, das ist die Gefahr dabei.
Wir kennen die medialen Möglichkeiten noch zu wenig. Alles kann geschehen, wenn die Kräfte stark genug sind, denen das Gehirn in diesem Zustand ausgesetzt ist.«
»Das ist klar«, wandte ich ein, »aber dennoch ist etwas seltsam. Das Blut schien von einem Punkt der Decke herabzuregnen. Ich sah deutlich, wie es auf die Frau tropfte und auf den Boden neben ihr. Und dann trat Ornella zu ihr. Und auch über sie regnete
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