020 - Die Blutgraefin
kam nicht dazu, mit Ornella zu reden, und es war auch besser so. Ihr Entsetzen hätte sie vielleicht verraten. Die Polizei kam Minuten später. Zwei Beamte und ein Herr in Zivil von der Kripo. Sie nahmen unsere Personalien auf und stellten eine Menge Fragen. Sie nahmen meine Antworten anfangs nicht sehr ernst, und ich hatte schon Angst, dass sie mich verdächtigten. Schließlich ließ ich Ornella unter der Obhut Madames zurück und führte die Herren in die Gewölbe hinab.
Ihr Interesse wuchs rasch, als sie die Spuren der grausigen Tätigkeit sahen.
Endlich, gegen halb zwei Uhr früh, kehrten wir in Madames Wohnung zurück. Dort stellten sie auch noch Madame und Ornella einen Haufen Fragen. Meine Bange war unbegründet.
Ornella wusste kaum etwas, und Madame war ebenso wie ich darauf bedacht, die Seance und die möglichen Zusammenhänge für sich zu behalten. Sie fragten nach dem Krankenhaus und verlangten, dass wir uns weiterhin zur Verfügung hielten.
Sie fotografierten das Zimmer, das blutige Bett. Einer der Polizisten hob eine Tasche hoch. »Gehört die dem Mädchen?«
fragte er.
Nein, es war Ornellas Tasche, und mir kam ein schrecklicher Verdacht. Ein wenig überhastet nahm ich sie ihm aus der Hand.
»Nein, die gehört meiner Bekannten.«
Dann waren sie endlich verschwunden, und ich sank seufzend in den Stuhl. Ich war erschöpft, zerschlagen und hatte Angst – um Ornella.
Es gab keinen Zweifel. Wenn ich da unten wirklich Darvulia begegnet war, dann stand Ornella unter ihrem Bann. Und erst wenn diese Hexe vernichtet war, würde Ornella frei sein. Es gab eine Möglichkeit, dass wir Wien verließen, so rasch die Polizei es uns gestattete. Vielleicht war Darvulias Macht hier an diesen Ort gebunden.
Eines war jedenfalls gewiss – bewusst oder unbewusst: Ornella war die weiße Frau gewesen, die die Gefesselte mit dem Messer bearbeitet hatte. Der entsetzte Blick der Verletzten, als sie Ornella gesehen hatte, war Beweis genug. Und es gab noch einen weiteren Beweis – in jener Tasche, die ich dem Polizisten aus der Hand gerissen hatte.
Der Geist der Blutgräfin war in ihr erwacht während jener Seance.
»Ich habe Ihnen beiden die Couches im Zimmer nebenan zum Schlafen hergerichtet«, sagte Madame und unterbrach meine Gedanken. »Wir sind heute alle sehr müde, und wenn mich nicht alles täuscht, ist Fräulein Rehmer bereits eingeschlafen.«
Tatsächlich schlief Ornella im Stuhl. Die deutlichen Zeichen von Erschöpfung waren in ihren Zügen.
»Ich möchte Ihnen noch sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, dass …«
»Sie haben Gelegenheit, Ihre Dankbarkeit zu beweisen«, erwiderte ich schwer. »Führen Sie mich in Ihr Badezimmer, Madame.«
»In das Badezimmer? Was haben sie vor?«
Als ich keine Antwort gab, sondern nur die Tasche hob, führte sie mich nach nebenan.
»Was ist in dieser Tasche?« fragte sie neugierig. »Es fiel mir schon auf, dass Sie wie ein Habicht …«
Sie verstummte, als sie sah, was ich aus der Tasche hervorzuziehen begann. Ich hörte ihr erregtes Atmen und sah meine Ahnung bestätigt.
In Händen hielt ich Ornellas altes Familiennachthemd. Aber es war nicht mehr weiß – es troff beinahe vor Blut. Dieser Arm mit den blutigen Rüschen war es gewesen, der sich mir so unauslöschlich eingeprägt hatte. Aber erst später, als alles vorbei war, war mir bewusst geworden, zu wem er gehörte. Zu meiner geliebten Ornella!
»Fräulein Rehmer«, flüsterte Madame.
»Ahnten Sie es nicht auch bereits, als das verletzte Mädchen beim Anblick Ornellas so entsetzt war?« fragte ich.
»Ja«, gab sie zögernd zu, »aber es schien mir zu unglaublich.
Sie weiß es nicht, nicht wahr?«
»Nein, sie weiß nichts. Nun verstehe ich vieles. Alles das, was sie tat, an das sie sich nicht erinnern konnte, bekommt einen Sinn. Dass sie sich die Haare wusch und dieses Gewand gestern Vormittag …«
»Werden Sie es ihr sagen?«
»Nein«, erwiderte ich rasch. »Madame, versprechen Sie mir, dass Sie schweigen!«
»Seien Sie unbesorgt. Aber glauben Sie nicht, dass sie bereits etwas ahnt?«
»Ich hoffe nicht. Wir werden Wien so rasch wie möglich verlassen. Vielleicht gelingt es dadurch, den Bann zu brechen.
Wenn nicht, ist immer noch Zeit, einen anderen Weg zu versuchen.«
Ich hielt das Nachtgewand hoch und legte es in das Waschbecken. »Könnten Sie es waschen?« bat ich. »Heute noch?«
Sie nickte.
»Ich bin sehr froh über Ihre Hilfe, Madame«, sagte ich.
Fasziniert betrachtete ich das eingestickte
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