0201 - Im Zentrum des Schreckens
entstammten allen Zeiten und Jahrhunderten. Manche trugen noch Fetzen ihrer alten Kleidung. Schaurig waren sie anzusehen. Aufgedunsen die Haut, manche auch regelrecht verbrannt oder zerfallen. Die Gliedmaßen baumelten von ihren Körpern, als würden sie überhaupt nicht zu ihnen gehören.
Rechts neben mir hing ein Mann. Er trug eine Uniform. Ich kramte in meinem Gedächtnis nach und wusste, dass diese Uniform etwa zur Zeit eines Napoleons getragen wurde. Das Gesicht des Mannes zeigte einen grünen Schimmer, die Zunge hing ihm aus dem Hals, quer durch sein Gesicht lief ein breiter Riss, in dem rostrot das eingetrocknete Blut schimmerte. Der Mann war vielleicht durch einen Säbelhieb gestorben.
Ich drehte den Kopf nach links. Da wurde ich von einer Frau eingerahmt. Sie hing schief in dem Seil. Der Kopf war verdreht, auch ihre Zunge stach zwischen den blutleeren Lippen hervor. Ihr Haar gleich einer strähnigen Flut. Es musste früher einmal schwarz gewesen sein, jetzt nur noch grau und verfilzt. Ich räusperte mich und wollte schon wieder woanders hinschauen, als ich sah, wie die Frau ihre Augen öffnete und mich anstarrte. Der Blick ging mir durch und durch. Er war leer, tot, aber trotzdem voller Hass. Ich schauderte…
Gleichzeitig dachte ich daran, dass vielleicht alle, die hier hingen, noch ein untotes, seelenloses Leben führten. Das war durchaus möglich, und ich stellte mir die Frage, wo ich hier gelandet war. Sollte dies hier etwa das Fegefeuer sein, von dem die Menschen in ihren Vorstellungen sprachen? Mein Blick glitt die Reihe der Gehängten entlang. Soweit ich in dem düsteren, aber dennoch klaren Licht schauen konnte, sah ich nur Leidensgenossen, die ebenso an dem gewaltigen Galgen hingen wie ich. Eine wirklich schaurige Szenerie, denn das Licht gab ihr einen zusätzlichen gespenstischen Anstrich. Ein graues, kaltes, klares Licht. Es entsteht manchmal, wenn helle und dunkle Wolken gegeneinanderstoßen und dahinter dann die Sonne lauert. So ähnlich war es hier, nur dass ich keine Sonne sah, sondern zu beiden Seiten die gewaltige Reihe der Toten.
Ich wusste nicht einmal, wie ich hierher gekommen war. Nach Asmodinas Versprechen, mich zu töten, hatte der Teufel noch gelacht, dann war die Welt zu einem Kreisel geworden, und ich war erst hier am Galgen wieder erwacht. Ich warf einen Blick nach unten. Als ich mit Asmodina und deren Vater geredet hatte, da war kein Untergrund zu sehen gewesen. Nun wollte ich wissen, ob es sich hier ähnlich verhielt. Ich sah den Untergrund, aber lieber wäre mir der vorherige Zustand gewesen, denn die lange Reihe der Gehängten, zu der auch ich zählte, schwebte über einem gewaltigen See. Kein See, wie wir ihn kennen. Das Wasser war dunkel. Seine Farbe konnte schwarz, violett und auch rot sein. Auf der Oberfläche tanzten kleine Flämmchen, die sich so weit ausgebreitet hatten, wie der See reichte. Wieder erinnerte ich mich an den Begriff Fegefeuer, und ein abermaliger Schauer rann über meinen Rücken. Ich fragte mich, was dieser gewaltige See für eine Bedeutung haben könnte, und fror plötzlich, denn man brauchte wirklich keine große Phantasie zu haben, um sich vorstellen zu können, was in diesem Blutsee alles geschehen konnte.
Die Gehängten hingen nicht ruhig. Von irgendwoher wehte so etwas wie ein Wind, ein laues Lüftchen vielleicht, das gegen die Körper fuhr und sie zum Pendeln brachte. Ich glaubte nicht daran, dass alle noch lebten. Dazu sahen sie mir einfach zu leblos aus. Und wie lange hingen sie hier schon? Eine Ewigkeit? Jahre, Monate? Gab es die Zeit in der Hölle überhaupt? Das fragte ich mich wirklich. Zeit ist ein relativer Begriff. Um ihn festlegen zu können, braucht man einen Bezugspunkt, und das schien mir in der Hölle nicht möglich zu sein. Ich musste mich in mein Schicksal ergeben. Teuflisch war die Fesselung. Im ersten Augenblick war ich froh, dass man mich nicht erhängt hatte, aber wenn ich genauer darüber nachdachte, da wurde mir das Raffinierte der Fesselung erst bewusst. Ich konnte die Arme bewegen, wenn auch eingeschränkt, aber dennoch. Der Strick lief unter meinen Achselhöhlen her, beide Seiten bildeten über meinem Kopf ein Dreieck und trafen sich oben an der langen Galgenstange, die waagerecht lief und in die Unendlichkeit zu führen schien. Unter Umständen würde es mir sogar gelingen, aus der Fesselung herauszurutschen, nur brachte dies nichts. Ich wäre in den Blutsee gestürzt und jämmerlich ertrunken. Vielleicht sogar zum
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