0203 - Um Mitternacht am Galgenberg
freiliegenden Stellen war sie auch aufgehellt, vor allen Dingen dort, wo sich noch die Schneefelder befanden.
Marcels Nervosität hatte im Laufe der Zeit zugenommen. Irgend etwas passte ihm nicht. Er war in den Bergen aufgewachsen, man konnte ihn als einen Naturburschen bezeichnen, und er besaß fast die Witterung eines Tieres.
Marcel roch die Gefahr…
Sie war existent, sie war da, und sie hatte sich sogar verdichtet. Ohne dass er es eigentlich genau steuerte, war sein Gang schleichender und vorsichtiger geworden. Er schnupperte und witterte, auf seinem Rücken lag ein Schauer, seine Zunge fuhr über die spröden Lippen, in den Augen lag ein harter Glanz.
Auch Colette merkte etwas. »Was hast du denn, Marcel? Du bist so komisch.«
»Nein, mein Schatz, nur vorsichtig.«
»Glaubst du, dass der Mann vom Galgen hinter uns herkommt?«
Ohne es vielleicht zu wollen, hatte Colette genau ins Schwarze getroffen. Marcels Gedanken beschäftigten sich in der Tat mit dem Erhängten, und er glaubte, seine böse Aura zu spüren. Jeder Geist, jedes Wesen strahlte eine gewisse Aura aus, ob Mensch, Tier oder Dämon. Und die Aura merkte er hier besonders stark. So stark sogar, dass er sich nicht traute, weiterzugehen.
Colette war verwundert. »Du bleibst stehen?«
»Ja.«
»Aber wir wollten so schnell wie möglich ins Dorf?« Ihre Stimme klang erstaunt.
»Natürlich.« Er gab die Antwort automatisch, weil er mit seinen Gedanken nicht bei der Sache war.
Dafür zog er sein Messer, eine lange blitzende Stahlklinge. Als Colette das Funkeln sah, bekam sie es mit der Angst zu tun, und sie stieß einen erschreckten Ruf aus.
»Keine Angst«, flüsterte der Bandit. »Das dient nur zu unserer Sicherheit.«
Er hatte erst die Pistole nehmen wollen. Wenn er allerdings schießen musste, würde man den Schuss sehr weit hören. Das passte ihm nicht, dann machte er andere nur unnötig aufmerksam.
Irgendwo über sich vernahm er ein Geräusch. Dann rollte ein Stein über den Hang und fiel dicht vor ihren Füßen auf den Weg. Ein Tier hatte den Stein lösen können, es musste nicht sein.
Marcel zog Colette nach links. Dort befand sich ein Hang, wo auch Felsen überstanden, die den beiden Flüchtlingen einigermaßen Deckung geben konnten.
Colette wollte etwas fragen. Sie zögerte, denn sie schaute in das harte angespannte Gesicht ihres Freundes und wusste instinktiv, dass es besser war zu schweigen.
Sekundenlang geschah nichts. Auch Colette rührte sich nicht. Wie Marcel atmete sie durch den offenen Mund. Nichts sollte die beiden verraten.
War alles eine Täuschung? Nein! Auf einmal hörten sie Schritte. Sie klangen dort auf, wo der Weg sich senkte. Dort kam jemand.
»Sei ganz ruhig«, wisperte Marcel. Er sprach so leise, dass Colette es kaum hören konnte. Sie nickte.
Marcel spannte sich. Seine Faust umschloss den Messergriff. Weiß sprangen die Handknöchel hervor, die Lippen in seinem Gesicht bildeten einen Strich, so hart hatte er sie zusammengepresst.
Noch war der andere so weit entfernt, dass sie ihn nicht sehen konnten. Aber sie hörten ihn genau.
Schritt für Schritt näherte er sich ihrem Versteck. Unter seinen Sohlen knirschten die kleinen Steine, und Marcel hatte einen schrecklichen Verdacht.
Ein wenig beugte er sich vor, lugte nach links - und sah den Schatten! Ein Mann kam.
Mit einem Sprung verließ Marcel die Deckung des Felshanges, stand breitbeinig auf dem Weg und hielt das Messer so in seiner Rechten, dass die Spitze auf den Ankömmling zeigte.
Die Augen des Banditen wurden groß. Unglauben stahl sich in den Blick. Der Mann, der ihm entgegenschritt, war ein alter Bekannter, ein Kumpan von ihm.
Es war Pal, der Gehenkte!
***
Wir standen vor dem Pfarrhaus und sprachen über die letzten Worte des Pfarrers.
Bill meinte: »Er muss mehr gewusst haben, als er zugegeben hat!«
Wir nickten. »Und auch über Izzi und den ganzen Fall«, präzisierte Ty Everett.
»Aber Sie hat er nicht weiter eingeweiht?« wandte ich mich an den Reporter.
»Nein.«
Zwei kräftige Männer trugen den Pfarrer aus dem Haus. Sie hielten ihn an Beinen und Schultern gefasst. Zwei andere hatten eine primitive Trage geholt, auf die der Geistliche gelegt wurde. Zu viert trugen sie den Pfarrer weg.
»Hoffentlich übersteht er es«, sagte Bill.
»Ich glaube, der Pfarrer hat eine gute Konstitution«, meinte Suko.
Die anderen Menschen betrachteten uns scheu. Wir waren Eindringlinge, Fremde. Und mit Fremden hatte man in diesen kleinen Bergdörfern
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