0203 - Um Mitternacht am Galgenberg
Banditen. Marcel lächelte, obwohl er am liebsten geheult hätte. Die Kleine setzte so großes Vertrauen in ihn. Er glaubte nicht, dass er es rechtfertigen konnte.
Nach wie vor war die Nacht ziemlich dunkel. Kein Mond, wenig Sterne, dunkelblau der Himmel.
Manchmal wuchsen lange Schatten die Hänge hoch, dann wieder glänzten Schneefelder in einem matten Weiß.
Colette und Marcel bewegten sich vorsichtig weiter. Sie schritten durch eine mit Steinen gefüllte Rinne und bemühten sich, so wenig Geräusche wie möglich zu machen, was natürlich sehr schwer war.
Die Verfolger gaben sich weniger Mühe. Sie waren zu hören. Manchmal klangen dumpfe Rufe an ihre Ohren, dann rollten irgendwo Steine, und die ansonsten stille Bergwelt verzerrte das Schätzen von Entfernungen.
Die Verfolger konnten sehr nahe oder auch noch weiter entfernt sein.
Marcel war sehr froh darüber, dass die kleine Colette keine zu große Angst zeigte. Sie hielt sich wirklich tapfer, hatte sich wie der Bandit geduckt und bewegte sich vorsichtig neben ihm her.
Auf einmal blieb Marcel stehen. Er hielt Colette an der Schulter fest, weil sie weitergehen wollte.
»Wir müssen hierher«, flüsterte Marcel.
»Ist da eine Höhle?«
»Ja.«
Der Bandit hatte nicht gelogen. Dort befand sich tatsächlich das Versteck, das er gesucht hatte. Man konnte in den Hang hineingehen, und den Höhleneingang bildeten schief hängende und vorspringende Steinplatten. Sie schützten die Höhle auch vor rutschendem Geröll.
»Duck dich!« zischte der Bandit.
Colette zog den Kopf ein. Marcel musste fast auf die Knie nieder, um die Höhle zu betreten. Er tat dies nicht zum erstenmal und wusste, dass er sich dicht hinter dem Eingang wieder aufrichten konnte.
Auch dann stieß er nicht mit seinem Kopf gegen die Decke. In der Bewegung zog er auch Colette mit hoch, die sich dicht an ihn presste und am ganzen Körper zitterte.
»Ich habe Angst«, wisperte sie. »Es ist alles so schrecklich finster.«
»Keine Bange, ich mache Licht.«
»Gibt es das hier?«
»Klar. Wir haben überall unsere Verstecke, und in jedem befindet sich eine sogenannte Notausrüstung. Sie ist in ein imprägniertes Tuch eingewickelt. Es schützt vor Feuchtigkeit.«
»Das ist ja richtig toll!« Für einen Moment schien Colette ihre Angst vergessen zu haben.
»Und wie«, erwiderte der Bandit und strich dem Mädchen über das blonde Haar.
So finster, wie sie erst gedacht hatten, war es doch nicht. Durch das Eingangsloch fiel schwaches Licht. Es war mehr grau als hell, aber die beiden konnten erkennen, wo der Eingang lag und hatten somit einen Orientierungspunkt.
»Ist die Höhle groß?« wollte Colette wissen.
»Ziemlich.«
»Und hier werden uns die anderen nicht finden?«
»So ist es.«
Marcel hatte gelogen, das wusste er selbst. Die anderen kannten dieses Versteck ebenso gut wie er.
Es bestand für die Verfolger somit eine gute Chance. Andererseits war es auch möglich, dass sich die übrigen Banditen zurückgezogen hatten und in Richtung Clemenza einen Sperrriegel errichteten, weil sie annahmen, die beiden würden trotz allem noch den Weg ins Dorf suchen.
Es war feucht im Innern. An der Decke hatte sich Wasser gesammelt, zu Tropfen verdichtet, die nach unten fielen und auf die am Boden liegenden Steine klatschten. Die monotonen Geräusche wurden durch die Schritte der beiden Flüchtenden übertönt. Sie bewegten sich vorsichtig weiter. Marcel hielt sein Messer fest wie einen Rettungsanker.
»Willst du nicht Licht machen?« fragte Colette.
»Gleich, mein Schatz.«
Sie gingen noch ein paar Schritte, bevor sie stehen blieben. Der Bandit kniete sich hin. Er griff in seine Tasche und holte die Zündhölzer hervor. Es raschelte, als er die Packung bewegte, und ein schabendes Geräusch entstand, während er sie aufschob.
Er hatte bereits eines der kleinen Wachshölzer zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt, als plötzlich ein weißer Strahl das Dunkel zerschnitt. Er kam aus dem Hintergrund der Höhle, von dort, wo sie hinwollten. Und er traf genau Marcels Gesicht.
Geblendet schloss der Bandit die Augen. Er vernahm Colettes erschreckten Ruf und gleichzeitig eine Stimme, die er sehr gut kannte und vor der er sich gefürchtet hatte.
»Willkommen zu Hause, Marcel!« Es gab nur einen, der so sprach. Jaques Carru, der Bandenchef!
Die Falle war zugeschnappt. Endgültig. Daran gab es nichts mehr zu rütteln. Marcels Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Für ihn und Colette gab es keinen
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