0205 - Die goldene Kralle
mußte er es auf eine andere Art und Weise versuchen.
Zwei Drittel der Kabinen lagen hinter uns. Noch ungefähr zehn Türen, wie ich schnell abschätzte.
Wir wurden mittlerweile unruhig. Auch Kölzer schüttelte immer wieder den Kopf.
»Wenn der uns nicht reinlegt«, sagte er.
Niemand widersprach.
Ich schaute über die Schulter zurück, wo das große Schwimmbecken ein Viereck bildete. Dahinter kräuselte der Wind die Oberfläche des Sees. Schwarze Vögel flogen pfeilschnell über das Wasser, stiegen dann in die Höhe, um sich die kahlen Baumäste als Sitzplätze auszusuchen.
Wieder riß Suko eine Tür auf, und abermals glotzten die Mündungen unserer Pistolen in das Innere der kleinen Kabine.
»Nichts!« knirschte Kölzer.
Da hörten wir den Schrei.
Es war mehr ein Röcheln. Wir rissen die Köpfe und die Waffen hoch und wagten dennoch nicht zu schießen.
Dafür sahen wir das Schreckliche.
Der Wertiger, es war tatsächlich einer, hatte sich seine Beute geholt. Mit seiner gefährlichen Pranke hielt er einen jungen Polizisten umklammert, und die Spitzen der Krallen befanden sich nur eine Fingerbreite von dessen Kehle entfernt.
Wenn wir uns bewegten, würde die Bestie den Mann töten…
***
»Stefan, mein Gott!« flüsterte der Polizist neben uns, kalkbleich im Gesicht. Gesicht.
Auch wir erstarrten.
Niemand von uns traute sich, eine Bewegung zu machen. Neben mir stand Suko zur Salzsäule verwandelt. Ich hörte das hastige Atmen des Kommissar Kölzer und ahnte, was in seinem Innern vorging.
Bisher hatte er immer an einen Menschen geglaubt, nun wurde er eines Besseren belehrt. Der Killer war kein Mensch, sondern eine Mischung zwischen Mann und Tiger.
Eine Bestie…
Seine menschliche Seite war deutlicher zu erkennen. Wir sahen ein normales Auge, das Ohr, die Hälfte der Nase und die des Mundes, auch die linke Wange war normal sowie die blonden Haare.
Doch die rechte Seite war von der Bestie voll übernommen worden. Sie lag zwar nicht frei, weil der Körper des Polizisten sie zum großen Teil deckte, doch die gelbschwarz gestreifte Pranke und die goldene Kralle ließen erkennen, wie gefährlich dieses Wesen war. Daß es in der letzten Zeit eine Untat begangen hatte, erkannten wir an den Blutspritzern auf der Kralle.
»Wir müssen was tun!« flüsterte der Polizist. »Stefan Franke darf nicht von ihm ermordet werden. Wir…«
»Seien Sie ruhig!« zischte Kölzer.
Will, Suko und ich mischten uns nicht ein. Wir kannten das Spiel.
Geiselnahmen liefen immer nach dem gleichen Schema ab. Wahrscheinlich würden wir unsere Waffen niederlegen müssen.
Nach einigen Sekunden vernahmen wir das Knurren. Die Bestie schüttelte sich, krümmte die goldene Kralle, riß das Hemd und den Krawattenknoten des Polizisten entzwei und fuhr mit den Spitzen über die Brust des Mannes.
Frankes Gesicht verzerrte sich, als das Blut aus den langen Streifen quoll, die die Kralle hinterlassen hatte. Es waren nur leichte Verletzungen, als eine Warnung für uns gedacht, die wir sehr wohl verstanden. Und es bewies uns, daß diese Bestie keine menschlichen Gefühle mehr kannte. Sie würde ihre Geisel eiskalt umbringen, deshalb standen wir wie angewachsen und rührten uns nicht.
Sekunden vergingen.
Schließlich raffte ich mich zu einer Frage auf. »Was willst du?« sprach ich den Gegner an.
»Weg mit den Pistolen!« Er redete rauh und krächzend. Das Sprechen bereitete ihm Mühe.
»Warum?« Ich hatte mich blitzschnell zu einem Bluff entschlossen. »Seit wann hast du Angst vor normalen Kugeln? Ich dachte immer, du wärst unbesiegbar.«
»Ihr seid anders«, erwiderte der Wertiger. Ich spüre es genau.
»Ihr kennt euch aus.«
Neben mir flüsterte Kommissar Kölzer. »Das ist König. Verdammt, das ist Gerd König.«
Da hatten wir den Beweis. Nun wußte ich auch, aus welchem Grunde die Angestellten der Firma König getötet worden waren.
Die kannte der Mörder, an die kam er besser heran, und sie waren völlig ahnungslos, wenn er sich als normaler Mensch zeigte.
Nicht nur die Bestie wohnte in ihm. Einen Rest seines Verstandes hatte er sich bewahrt. Er schien zu ahnen, daß ihm mit uns Gegner gegenüberstanden, die ihm gefährlich werden konnten. Deshalb hatte er sich auch die Geisel genommen.
Daß er sie umbringen würde, war uns klar. Deshalb unternahmen wir nichts, und ich hörte dicht hinter mir die beschwörende Stimme des anderen Uniformierten. »Schnell weg mit den Waffen, schnell, sonst bringt er Stefan noch um!«
Der Gute
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