022 - Schreie aus dem Sarg
selbst
beinahe darauf hereingefallen. Du weißt, dass wir Feinde in Guinea haben. Es
gibt dort eine Gruppe, die es offensichtlich darauf anlegt, gewisse Europäer zu
schädigen. Und ... aber darüber möchte ich jetzt nicht mehr sprechen, Liebling.
Du sollst dich nicht wieder aufregen.«
Sie nickte. Ihre Augen waren dunkel und ernst. »Schon gut. Wir sprechen ein
andermal darüber.« Er schloss die Tür hinter sich. Madeleine Simonelle hörte,
wie er die knarrenden Treppen in den zweiten Stock hinaufging, in die große
Bibliothek. Noch ein Stockwerk höher befanden sich die Zimmer für ihren Sohn
Jean-Pierre und für ihre Tochter Charlene ... Der Gedanke an sie trieb ihr
wieder die Tränen in die Augen. Aber sie erregte sich nicht mehr so stark wie
in der Kapelle.
Achtlos blätterte sie in der Zeitschrift. Im Haus war es still. Draußen
nahm die Dämmerung zu. Die alten knorrigen Bäume wirkten wie eine einzige,
düstere Mauer, die das Anwesen umschlossen.
Durch das halbgeöffnete Fenster hörte sie das gleichmäßige Rauschen des
Flusses.
Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Immer wieder musste sie an
Charlene denken.
Es war eigenartig. Warum weigerte sich Philipe, ihr genauen Einblick in den
Inhalt des Telefongespräches zu geben? Wusste er mehr?
Und da war noch etwas, das ihr nicht aus dem Sinn ging und das niemand von
den Trauergästen, weder von Jean-Pierre noch ihrem Mann, ja nicht einmal Dr. de
Freille bemerkt hatte: Charlenes Augen waren offen gewesen, vorhin im Sarg.
Als man sie aber in den Sarg gelegt hatte – waren ihre Augen geschlossen ...
Zehn Minuten vergingen. Dann hielt sie es nicht mehr aus.
Madeleine Simonelle zog die Wolldecke von den Beinen herunter, schlang den
Gürtel des eleganten Morgenmantels enger um die Hüften und verließ ihr Zimmer.
Das Mädchen hantierte noch in der Küche. Madeleine Simonelle ging auf sie
zu.
»Claudine – falls mein Mann nach mir fragen sollte: Ich mache noch einen
kleinen Spaziergang durch den Park. Der Abend ist herrlich. Die Luft und die
Ruhe werden mir guttun.«
»Ja, Madame. Kann ich noch etwas für Sie tun?«
»Nein, danke. Im Moment nicht. Vielleicht, wenn ich zurückkomme.« Sie
lächelte matt und verließ über den Seitenausgang, der auf die große Terrasse
führte, die Villa.
Über dem Eingang brannte nur die einsame, schwache Lampe.
Dunkelheit umgab sie, als sie auf dem Weg zur Bank unter den drei dicht
beisammen stehenden Eichen ging. Sie spielte einen Augenblick lang mit der
Idee, sich hinzusetzen und ihren Gedanken nachzuhängen. Doch dann unterließ sie
es. Sie warf einen Blick zum Haus zurück. Hinter den zugezogenen Vorhängen in
den oberen Stockwerken brannte Licht. In der ersten Etage sah sie deutlich die
Silhouette ihres Mannes mitten im Raum. Jetzt wandte er sich um, ging hinüber
zu einem der wandhohen Regale und griff nach einem Buch ...
Madeleine Simonelle näherte sich auf dem Kiespfad der kleinen, düsteren
Kapelle. Sie ging hinein und starrte mit brennenden Augen hinüber zu der noch
offenstehenden Tür, die in die Familiengruft der Simonelles führte.
Ein tiefer Atemzug hob und senkte die Brust der blassen Französin.
Die Kerzen flackerten lautlos und warfen bizarre Schatten an die Wände und
die Decke der Kapelle. Sie ging um das Podest herum, auf dem der Sarg gestanden
hatte. Dann näherte sie sich dem gewölbeähnlichen Eingang zur Gruft. Auch hier
brannten noch die Kerzen.
Es roch nach Wachs.
Madeleine ging in die Gruft und sah die gewaltigen Steingräber, unter deren
schweren Platten die Vorfahren der Simonelles ihre ewige Ruhe gefunden hatten.
Auf den Platten waren die Namen, Geburts- und Sterbedaten tief eingemeißelt.
Auch für Charlene war ein Steingrab vorbereitet. Die Abdeckplatte stand an
der Wand. Ihr geöffneter Sarg befand sich genau zwischen zwei gewaltigen
Säulen, die die Gruft stützten.
Auf steinernen, halbhohen Säulen standen flache Schalen, in denen Öllichter
flackerten.
Madeleine Simonelle hatte nur Augen für den Sarg, in dem ihre Tochter lag.
Sie wollte es noch einmal ganz genau wissen und sich orientieren, ob sie vorhin
doch keiner Täuschung zum Opfer gefallen war. Unter der Wirkung der Droge, die
Dr. de Freille ihr injiziert hatte, war sie noch immer verhältnismäßig ruhig und
gelassen.
Sie beugte sich nach vorn. Da war ihr, als ob jemand hinter ihr stünde. Sie
sah den Schatten neben sich auftauchen.
Blitzschnell wirbelte sie herum.
Ihre Augen weiteten sich. Sie konnte nicht
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