0228 - Der Leichenpfad
über ihn geleert. »Vor 300 Jahren fing es an. Da wohnte in den Wäldern eine gewisse Gräfin von Schwarzfeld. Sie war ein Biest, immer hinter Männern her, und sie holte sich zumeist die jungen Burschen aus dem Dorf. Die mußten ihr dann zu Diensten stehen. Aber nicht nur das. Wenn sie es in den Kopf bekam, dann tötete sie die Männer. Wer schreit schon danach? Es waren schließlich Leibeigene. Es müssen schreckliche Dinge passiert sein. Diener karrten die Toten über den Leichenpfad auf den alten Friedhof, wo sie regelrecht verscharrt wurden.«
»Und die Gräfin?« fragte ich.
»Die ereilte auch das Schicksal. Eine Frau aus diesem Dorf hat sie getötet, vielmehr ein Mädchen. Es arbeitete als Dienerin bei der Gräfin. Als es sah, daß die Gräfin auch ihren Verlobten auf die Burg schaffen ließ, da drehte es durch. Bevor die mächtige Frau mit dem Mann ihr schändliches Spiel treiben konnte, traf sie ein vergifteter Dolchstoß. Sie starb noch im Bett und schrie immer nach der Hölle, während sie in den letzten Zuckungen lag. Man hat ihren Körper dann verscharrt, aber seit dieser Zeit spukt sie herum, weil die Seele keine Ruhe mehr findet. Der Satan hat ihr ein ruheloses Dasein verschafft. Nachts lauert sie am Totenpfad und ermordet die Menschen, die ihn betreten. Sie ist furchtbar und grausam, und sie hat Helfer auf dem Friedhof. Davon sind wir überzeugt.«
»Wen denn?« fragte ich. »Die Toten?«
»Ja, so sagt man.«
»Aber Tote können…«
Der Wirt unterbrach mich mit wilden Handbewegungen. »Hier können Tote auferstehen. Zumindest einer hat keine Ruhe gefunden. Es ist der ehemalige Pfarrer des Dorfes.«
»Ein Geistlicher?«
»Ja, glauben Sie mir. Da ist eine furchtbare Sache geschehen. Das war in den letzten Kriegstagen. Ich habe davon nicht so viel mitbekommen, aber damals fuhren der Pfarrer Schmitz und ein gewisser Göpfert die Toten eines Nachts über den Leichenpfad zum Friedhof, um sie zu begraben…« Es folgte nun die Story, die ich schon kannte, aber ich wollte wissen, wie sie der Wirt interpretierte.
Als er seinen Bericht beendet hatte, hakte ich nach. »Hat man den Pfarrer denn nie gefunden?«
»Nein, bis heute nicht.«
»Aber Göpfert.«
»Ja, er wurde begraben. Man sagt, daß er nicht tot war, sondern nachts aus der kühlen Erde steigt und zusammen mit der Gräfin, der Weißen Frau also, am Leichenpfad lauert.«
»Hat ihn jemand gesehen?« fragte Will Mallmann.
Der Wirt nickte heftig. »Und wie. Diejenigen können leider nichts mehr sagen, sie sind tot.«
»Sie sprechen den Doppelmord an?«
»Genau. Das muß so gewesen sein. Wir fanden die Leichen am Totenpfad, und dann waren sie plötzlich verschwunden. Unter, den Augen der Polizei, kurz vor der Beerdigung.« Der Wirt schenkte sich hastig einen Schnaps ein. »Wir alle glauben, daß dahinter nur die Weiße Frau steckt. Sie hat die Toten verschwinden lassen und vielleicht wird sie die beiden wieder zum Leben erwecken. Es war ein Ehepaar, das immer hier gewohnt hat.«
»Weshalb sind sie des Nachts zum Totenpfad gegangen?« wollte ich wissen.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Sinclair. Der Mann und die Frau haben darüber nicht gesprochen.«
Die Sache wurde immer rätselhafter. Ich schaute zu, wie der Wirt seinen Schnaps kippte und meinte: »Es kann doch durchaus möglich sein, daß sich die beiden Toten auf dem seltsamen Friedhof befinden, bei dem der Totenpfad endet oder nicht?«
»Damit rechnen wir auch.«
»Haben Sie nachgesehen?«
»Nein. Wer traut sich schon dorthin?«
»Wir«, sagte der Kommissar. »Wir werden uns den Friedhof einmal anschauen und vor allen Dingen auch den Totenpfad.«
Der Wirt begann zu jammern. »Wollen Sie sich unglücklich machen? Das ist eine Versündigung. Sie laufen in Ihr Verderben, wirklich. Der Friedhof darf nicht betreten werden. Er ist eine Tabuzone.«
»Und wo begraben Sie Ihre Toten?« hakte ich nach.
»Nicht dort. Wir haben einen neuen Friedhof angelegt. Am Ende des Dorfes. Er ist zwar noch klein, aber mit der Zeit wird er wachsen. Zudem haben wir ihn geweiht, auf dem alten Totenacker wird niemand mehr begraben, das kann ich Ihnen sagen. Hören Sie auf meine Warnung. Ich möchte nicht vor Ihren Leichen stehen.«
»Das brauchen Sie auch nicht«, erwiderte ich optimistisch und nickte meinem Freund Will zu.
Der Kommissar verstand. Jede Minute, die wir hier verquatschten, war vergeudete Zeit. Wir wollten zum Friedhof. Tagsüber sah immer alles anders aus, als in der
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