0228 - Der Leichenpfad
Er tastete mit Blicken den nackten Körper ab, und die Finger seiner freien Hand bewegten sich greifend.
Endlich hatte Chris den Schock überwunden.
Sie schrie.
Weit riß sie den Mund auf, und es störte sie auch nicht, daß Wasser über die Lippen drang. Sie mußte ihre Angst loswerden, die sich in diesen markerschütternden Schreien entlud.
Der Fremde stand unbeweglich und schaute auf das nackte Mädchen, das zu einer Statue geworden war. Chris war so entsetzt, daß sie nicht mitbekam, wie sich der andere bewegte, noch einmaltief stöhnte und dann abdrehte.
Er verschwand in Frank Göpferts Zimmer. Was er dort tat, war nicht zu sehen, es kümmerte Chris auch nicht, deren Schreien an Lautstärke verloren hatte und in einem Wimmern endete. Chris fühlte, wie sich der Krampf löste, die Knie gaben nach, sie begannen zu zittern und konnten das Gewicht des Körpers nicht mehr halten.
Im Zeitlupentempo sank sie in die Knie. Instinktiv streckte sie noch ihre Arme aus, suchte Halt an der Wand zu finden, doch sie griff nur in den Vorhang. Instinktiv krümmte sie die Finger, so daß ihr Fall gebremst wurde, als sie auf den Boden der Dusche schlug.
Zuckend blieb sie dort liegen, während weiterhin die Wasserstrahlen auf ihren Körper schlugen.
So fand sie auch Frank Göpfert.
Wie ein Irrer war er um das Haus herumgerannt, durch den Garten gestürmt, an die Rückseite ins Haus gelangt und hatte mit Riesenschritten den Weg nach oben genommen.
»Chris!« Sein Schrei gellte durch den Flur. Er war so in Panik geraten, daß er die Gestalt übersah, die sich in eine Türnische gedrückt hatte. Frank Göpfert rannte einfach vorbei.
Dann riß er die Tür zu seinem Zimmer auf, schaute auch da nicht genau nach, sondern hetzte in die Dusche.
Dort lag sie.
Franks Gesicht verzerrte sich. Für einen Moment drehte sich alles vor seinen Augen, weil er das Gefühl hatte, eine tote Chris Berger vor sich zu sehen, das jedoch stimmte nicht, seine Chris lebte, sie atmete noch, wenn sie auch am ganzen Leib zitterte und wieder schrie, als Frank sie anfaßte.
»Nein, nein, nein!« rief der Student. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin es.« Er hob sie an, stellte die Dusche ab und zog Chris aus dem Becken.
»Frank!« hauchte sie.
»Ja, ich…«
»Mein Gott, ich…«
»Du brauchst nichts zu sagen, Liebes.« Er redete und streichelte sie in einem. »Komm, ich lege dich auf das Bett und gebe dir ein Handtuch. Dann kannst du dich abtrocknen und…« Frank merkte nicht, daß er alles durcheinanderbrachte, aber das spielte für ihn keine Rolle: Er war nur froh, am Leben zu sein.
Auch sein Zimmer war abgedunkelt worden. An einer Seite lief die Decke bereits etwas schräg. Dicke Holzbalken waren zu sehen.
Sie glänzten braun. An den Balken hingen Modellflugzeuge, die Frank als Junge so gern zusammengesetzt hatte.
Und es stand auch sein Bett dort. Darauf fiel sein Blick.
Im nächsten Moment glaubte Frank, wahnsinnig zu werden. Er hielt sich selbst für verrückt, schloß die Augen, öffnete sie wieder, aber er konnte das Bild nicht vertreiben.
Auf seinem Bett lag ein Toter!
***
Die Leiche sah schlimm aus. Die Haut im Gesicht zeigte einen gelblichen Schimmer mit stockigen, hellen Flecken darin. Ein Teil der Brust war eine einzige Wunde. Blut, Schorf und Haut hatten sich dort zu einem krustigen Gebilde vereint.
Ein schlimmes Bild, das Chris zuvor noch nie gesehen hatte. Als sie jetzt den Kopf drehte, griff Frank zu und preßte seine Hand vor ihre Augen. »Sieh nicht hin!« keuchte er. »Sieh nicht hin!«
Gleichzeitig zog er sie zur Tür.
Chris folgte ihm willenlos wie eine Puppe. Sie ließ sich nach draußen in den Gang ziehen, wo Frank sich mit Chris gegen die Wand lehnte und den Kopf schüttelte. Daß unten im Haus die Tür schlug, hörte er nicht einmal, zu sehr beschäftigten sich seine Gedanken noch mit den Ereignissen der grausamen Vergangenheit.
Nach einigen Minuten hatte sich Chris wieder halbwegs gefangen.
Sie klammerte sich noch immer an ihn. Wasser rann über ihre Haut, das Gesicht glänzte naß, die großen Augen waren fragend auf den jungen Mann gerichtet.
»Er war da, Frank. Er war da.«
»Wer?«
»Ich…ich kenne ihn nicht. Ein Mann. Schrecklich sah er aus, ein regelrechtes Untier.«
»Du hast ihn also nicht vorher gesehen?«
»Nein, Frank, nein.«
Göpfert holte tief Atem. »Ich weiß auch nicht, wie er ins Haus gekommen ist, aber er hat…« Hastig schloß er den Mund, weil er seinem Mädchen nichts von
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