023 - Der Flug der Phaeton
noch sehr sauer und konnte Löcher in die Anzüge fressen. Trotzdem konnte man schon kleine grüne Inseln aus resistenten genmanipulierten Pflanzen erkennen, die sogar in dieser Umwelt gediehen.
»Hoffentlich kommt dieser Müller bald zurück«, murmelte der Oberst vor sich hin, »wir müssen uns mit den anderen Stationen verständigen, um zu überleben.«
Ein ungewohnter Lärm riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Es klang beinahe wie …
Kampflärm!
»Mein Gott, jetzt sind die Aliens auch hier eingedrungen! Müller! Zu mir!«
Er rannte zu seinem riesigen Schreibtisch in der Mitte des Raumes und drückte hektisch auf die Schaltsensoren des Interkoms. Solch ungewöhnliche Situationen, die in keinem Handbuch zu finden waren, überforderten ihn deutlich. Das antiquierte Monokel, ein umgeschliffenes Erbstück seines Urgroßvaters, das zusammen mit dessen Offizierspistole als einziges Überbleibsel in einem Feldpostpaket 1945 aus Berlin gekommen war, fiel ihm aus dem Auge, als er nach eben dieser Pistole in seinem Schreibtisch kramte. Modernen Strahlwaffen hatte er stets zutiefst misstraut.
»Ich werde diese Station bis auf den letzten Mann verteidigen, wie Opa damals Berlin! Jawoll!« Seine Stimme glitt in einen Diskant, während er die Waffe durchlud.
Plötzlich brach der Lärm ab, und Oberst Kruger horchte auf. Doch bereits im nächsten Moment setzte er erneut ein, und diesmal waren deutlich Worte zu vernehmen, die Krugers Muttersprache entstammten.
»Halleluja, wir fürchten uns nicht …«
Er war auf alles gefasst, als sich das Schott gegenüber des Schreibtisches plötzlich öffnete. Der Lauf der 08 zitterte, als er sie darauf richtete.
Ein dicker Schatten quoll durch das Schott und blieb wie angewurzelt stehen, als er der Pistole gewahr wurde.
»Jessas, Kruger, ich bin’s doch, Müller! Tun’s das Ding weg! Ich möchte unsere Ärzte nicht vor das unlösbare Rätsel stellen, wie ich hier auf der Venus an einer antiken Kugel sterben konnte!«
Der Schatten zauberte ein überdimensionales, rotkariertes Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dabei trat er ins Licht des Fensters und offenbarte in einer unglaublich schmuddeligen Hauptfeldwebeluniform eine Gestalt, die das genaue Gegenteil von Kruger war. Sie schien aus dem festen Plastikstoff geradezu zu quellen. Von Bügelfalten war schon lange nichts mehr zu sehen. Die Reißverschlüsse waren offen oder halb geschlossen, und Flecken an allen möglichen und unmöglichen Stellen zeigten nicht nur, was in der Offizierskantine in der letzten Woche serviert worden war, sondern auch, dass sich die Gestalt nicht zu schade war, auch schmutzige Arbeiten selbst zu erledigen. Dabei hatte sie ein durchaus gutmütig wirkendes, feistes Gesicht unter blondem Haar, dessen Spärlichkeit ein umso struppigerer Schnurrbart wohl wettmachen sollte. Ihre wassertrüben blauen Augen sahen leicht belustigt zu Kruger, dessen untersetzte hagere Figur einen etwas zu großen Kopf ohne jeglichen Haarwuchs trug.
»Was ist das für ein Lärm?«, schnarrte Kruger. »Und nehmen Sie gefälligst Haltung an!«
Müller zuckte etwas mit den Schultern und nahm eine Haltung an, die auch bei näherem Hinsehen unter großem Wohlwollen nicht als stramm anzusehen war.
»Das ist die Durchführung der Operation ›Gesangsverein‹! Ich musste doch unsere Jungs irgendwie ablenken, und da dachte ich mir, ich erlaube ihnen den schon lange beantragten Gesangsverein zu bilden, wenn nur alle mitmachen. Und jetzt üben sie gnadenlos! Ham’s scho einmal von einem Gesangsverein gehört, der eine Meuterei anzettelt?«
»Die singen? Singen? In unserer Lage? Na ja, wenn sie Ruhe geben! Apropos Ruhe! Befehlen Sie sofort, dass die Lautstärke gesenkt wird! Unser letzter Befehl lautete, unerkannt zu bleiben. Das hört man ja bis zum Merkur und darüber hinaus! Was haben Sie von den anderen Geheimstationen erfahren können?«
Müller wischte sich die schwitzende Stirn mit dem Ärmel seiner Uniform ab. Es schien, als hätte er Krugers Frage gar nicht gehört. »Und dabei hätt’ ich in zwei Wochen Heimaturlaub gehabt!« Ein verklärtes Lächeln zog über sein feistes Gesicht und ließ den Schnauzer erzittern. »Weißwürst’, echte Münchner Weißwürst’, nicht die gefriergetrockneten chinesischen Imitate, die es hier auf der Station gibt. Mit süßem Senf! Hier gibt es trotz meiner vielen Anträge nur scharfen Senf. Barbarenpack!«
»Müller«, unterbrach der Oberst die Schwärmereien
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