023 - Der Flug der Phaeton
nur für die Besatzung der Steuerkuppel ausreichend Anzüge. Wenn bei der Landung die Außenhülle so beschädigt werden sollte, dass die Abdichtautomatik die Lecks nicht in wenigen Sekunden schließen konnte, hatten die vielen Passagiere keine Überlebenschance. Die hatte allerdings auch die Besatzung in ihren Anzügen nur für wenige Stunden, wenn Chandler die PHAETON nicht sanft genug auf der Venusoberfläche aufsetzte.
Haiko Chan schloss den Helm seines Anzugs. Die hektische Geräuschkulisse der übrigen Cockpitbesatzung wurde schlagartig leiser. Jean und der Copilot rasselten ununterbrochen Daten von ihren Computerdisplays herunter. Haiko spürte die Panik in dem Stimmengewirr und war froh, nicht mehr zuhören zu müssen. Helfen konnte er in dieser Phase ohnehin nicht. Ein ungeheures Gefühl der Verlassenheit ergriff von ihm Besitz. Festgeschnallt in einem Kontursitz und nichts, aber auch gar nichts tun zu können, war für die »Quecksilberkugel« unerträglich.
Gerade jetzt musste er wieder an sein grauenvolles Erlebnis denken, als er auf Venus-Alpha unter dem Kommando des unseligen Sodor eingeschleust werden sollte und in einem angeblich defekten Piratenschiff genauso untätig festgeschnallt auf seine »Retter« von Venus-Alpha hatte warten müssen. Am schlimmsten war es damals gewesen, dass man ihm nicht mitgeteilt hatte, wie der genaue Ablauf der Aktion sein sollte. Nun, diesmal hatte er mit Chandler und der restlichen Besatzung jedes Detail sorgsam besprochen, aber beruhigt war er deshalb noch lange nicht.
Denn auf der Venus fehlten Raumflughäfen mit bodenstationären Prallfeldern. Diese waren wegen des immensen Energiebedarfs nur auf der Erde und dem Mond gebaut worden. ABC musste versuchen, mit den Nottriebwerken zu landen. Dafür war die PHAETON aber nicht ausgelegt. In der verhältnismäßig dünnen Luft der Erde hätten die antiken Kreuzertriebwerke vielleicht ausgereicht – und Chan hatte erlebt, welche ungeheuren Energien diese noch zu erzeugen vermochten –, aber in der dichten Atmosphäre der Venus konnten selbst diese Antimaterie verschlingenden Monster aus den alten Flibokreuzern kaum genug Schub erzeugen, um eine Bruchlandung zu verhindern. Chandler hatte all seine jahrzehntelange Erfahrung und stundenlange Simulationsrechnungen am Bordcomputer eingesetzt, um einen so flachen Eintrittswinkel zu errechnen, dass die PHAETON ihre mangelhaften aerodynamischen Eigenschaften optimal einsetzen konnte. Trotzdem würde es ein gefährlicher Balanceakt zwischen ausreichender Beschleunigung und bremsender Venusatmosphäre werden. Waren sie zu langsam, würden sie unweigerlich abstürzen, waren sie zu schnell, würden sie verglühen.
Chan sah nach oben. Die schmutzigweiße Scheibe der Venus füllte mittlerweile die gesamte sichtbare Kuppel aus. Kurze Vibrationen zeigten, dass die Triebwerke verzweifelt versuchten, ihren Schub so zu verringern, dass das Schiff in einen steuerbaren Gleitflug überging.
Durch die Wolkendecke der Venus, die nicht mehr ganz so fugenlos dicht war wie vor dem Beginn des Terraformings, konnte man an einigen Stellen die orangerote Oberfläche der Venus erkennen. Chan meinte sogar, kurz durch eine Wolkenlücke grüne Flecken schimmern zu sehen. Das Terraforming der Venus hatte offensichtlich schon erhebliche Fortschritte erzielt. Allerdings war die Oberfläche immer noch so heiß, dass kaum die genmanipulierten Pflanzen überleben konnten, von irdischen Lebewesen gar nicht zu reden. Nur auf den höchsten Erhebungen hatte ein Mensch mit Sauerstoffflaschen die Chance, einige Stunden ohne Raumanzug am Leben zu bleiben. Das war ein Grund, warum als Landeplatz die hohen Maxwell Montes auf Ishtar Terra gewählt worden waren. Der andere, dass dort die einzige noch funktionierende Erdbasis sein musste. Alle Versuche, mit den anderen Stationen in Kontakt zu kommen, waren gescheitert. Irgendwie war Chan sogar froh darüber. Sodor hätte sich bestimmt gefreut, Chan einer »Sonderbehandlung« unterziehen zu können, wenn er ihn endlich zu fassen bekommen hätte.
Allerdings wagte Chan nicht daran zu denken, was geschähe, wenn auch Flibo-Omega nicht mehr existierte. Die Passagiere würden es wenigstens nicht mehr bewusst mitbekommen. Chandler hatte schon vor Tagen ein Notfallprogramm aktiviert: Die Passagierräume waren mit einem leichten Narkosegas geflutet worden. So hatte wenigstens der Sauerstoff bis zur Venus gereicht.
»Festhalten!« Chandlers lautes Organ schreckte Chan aus
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