024 - Die Rattenkönigin
Obwohl es empfindlich kalt war, standen beide Flügel des einen Fensters sperrangelweit offen.
Chapman pirschte sich näher heran. Die friedliche Stille konnte trügerisch sein. Katzen auf Raubzug verursachten kaum Geräusche, aber wahrscheinlich war hier eher mit Ratten zu rechnen.
Ratten! Warum mußten es ausgerechnet Ratten sein? Millionen von Ratten, hatte die bucklige Alte gesagt. Und womöglich standen sie sogar unter dem Einfluß von Dämonen.
Für Chapman, der Ratten mit ganz anderen Augen und aus einer ganz anderen Perspektive sah als normal große Menschen, waren es die abscheulichsten Ungeheuer, die man sich vorstellen konnte.
Er hatte das Haus ohne Zwischenfall erreicht. Nun stand er unter dem offenen Fenster, das erleuchtet war. Er hörte murmelnde Stimmen, dann ging das Licht aus. Bettfedern quietschten. Chapman, der gerade über eine an die Wand gelehnte Planke zum Fenster hinaufklettern wollte, beschloß, noch einige Zeit zu warten, zumindest so lange, bis die Bettfedern zu quietschen aufgehört hatten.
Endlich war es soweit. Ein Windstoß hatte den Vorhang aus dem Fenster geweht. Chapman kletterte am Vorhang bis zum Sims hinauf und sprang auf das Fensterbrett.
Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit im Zimmer. Zwei Gestalten lagen im Bett. Ihr regelmäßiger Atem zeigte ihm an, daß sie bereits schliefen. Deshalb zögerte er nicht länger und verließ seinen zugigen Beobachtungsposten am Fenster. Er sprang in das Zimmer und suchte nach einem geeigneten Platz, wo er sicher und vor der Kälte geschützt die Nacht verbringen konnte.
Er fand schnell, wonach er suchte: einen Muff aus weichem Fell, der auf einer Kommode lag. Chapman machte es sich darin bequem; er hoffte nur, daß ihm nicht die Augen zufielen.
Die eine Gestalt im Bett bewegte sich. Chapman dachte sich zuerst nichts dabei, aber dann sah er auf dem Fensterbrett einen Schatten. Eine Ratte!
Er blickte wieder zum Bett. Es war ein Mann, der aufrecht im Bett saß. Kein Zweifel, das mußte Anselm van Riems sein. Er hatte die Augen geöffnet; Chapman erkannte es, weil sich die Straßenlichter darin spiegelten.
Eine Turmuhr schlug zwölf. So spät war es schon?
Anselm van Riems schlüpfte mit seltsam müden Bewegungen in die Pyjamahose und kletterte wie ein Traumwandler aus dem Bett. Eine Weile stand er da, den Blick in unergründliche Fernen gerichtet. Zu der einen Ratte auf dem Fensterbrett hatten sich weitere gesellt. Sie vollführten seltsame Bewegungen, als tanzten sie; dazu gaben sie Laute von sich, wie Chapman sie von Ratten noch nie gehört hatte.
Van Riems schien davon magisch angezogen zu werden. Ohne hinzublicken, nahm er seinen Wintermantel, der unordentlich über einem Stuhl lag, zog ihn sich über und trat aus dem Fenster. Die Ratten führten immer noch ihren seltsamen Tanz auf. Van Riems kletterte auf das Fensterbrett. Die Ratten sprangen in die Tiefe. Chapman hörte sie unten aufplumpsen. Van Riems schwang die Beine ins Freie. Die Ratten winselten.
Der Puppenmann wartete, bis van Riems außer Sicht war, dann verließ er seinen Beobachtungsposten auf der Kommode, sprang zu Boden, lief zum Fenster und kletterte hinauf. Im Garten befanden sich Dutzende von Ratten, die sich um van Riems' Beine drängten. Sie gebärdeten sich wie in höchster Ekstase. Chapman wollte gerade mit dem Abstieg beginnen, als von der Seite ein Schatten auf ihn zustieß. Er hatte die Ratte gar nicht gesehen, die sich auf dem Sims versteckt gehalten hatte, als hätte sie den Rückzug ihrer Artgenossen decken wollen.
Bevor Chapman an Gegenwehr denken konnte, hatte ihn die Ratte erreicht. Sie stieß ihn mit einer Vorderpfote um und schnappte zu. Er kam nicht an seine Pistole heran und war der Bestie damit hilflos ausgeliefert.
Du hörst die Frau deiner Träume rufen: Anselm, Anselm, Anselm – mein Körper sehnt sich so nach dir!
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