024 - Die Rattenkönigin
dich im Bett auf. Langsam und vorsichtig. Du befürchtest, du könntest Julie wecken, aber noch mehr befürchtest du, du könntest durch eine unachtsame Bewegung Jennys Bild verscheuchen. Das Verlangen in dir wächst, je länger du ihre Erscheinung betrachtest. Sie schwebt im Fensterrahmen, Schatten zu ihren Füßen. Ihr Rufen wird drängender, sehnsüchtiger.
Anselm, Anselm, Anselm! Komm!
Noch nie hat sie dich so gerufen. Sie braucht dich. Und du brauchst sie. Du kannst nicht anders, du mußt ihr folgen.
Du erhebst dich. Du bist nackt. Die Nacht ist kalt. Du schlüpfst in den Pyjama. Es ist noch immer kalt. Du ziehst noch etwas an, einen Mantel. Und dann wandelst du zum Fenster. Doch da entschwindet deine Jenny. Du willst nach ihr greifen, deine Hände fassen ins Leere.
Anselm, komm! Laß deine Jenny nicht warten!
Jenny braucht dich. Und du willst zu ihr, willst sie umarmen, zärtlich zu ihr sein, ihr sagen, daß es nur sie für dich auf der Welt gibt. Und du folgst ihr, kletterst aus dem Fenster. Doch wenn du auf sie zugehst, rückt sie von dir ab.
Komm zu mir! Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet! Endlich habe ich den Mut, dich zu mir zu bitten. Komm!
Du willst. Du willst. Ach, wie sehr du ihr alle Wünsche erfüllen möchtest! Du gelangst in den Garten. Jenny ist hinter dem Tor, auf der Straße. Zu deinen Füßen sind Schatten, die ein eigenes Leben haben. Es sind kleine, dunkle Körper, die seltsame Laute ausstoßen. Sie vollführen einen exotischen Freudentanz; es ist ein Ritual, ein Liebestanz für dich und Jenny.
Der Nachtwind fährt dir in die Glieder, läßt dich frösteln. Doch die Lockrufe schlagen dich in ihren Bann, lassen dich die Kälte vergessen. Du gürtest den Mantel enger und kommst durch das Tor auf die Straße, gehst, nein schwebst sie entlang. Du bewegst dich wie in Zeitlupe, wirst aber dennoch immer schneller.
Jenny ist vor dir. Sie hat die Arme ausgebreitet, den Kopf tief in den Nacken gelegt. Ihr Mund ist halb geöffnet und wie zum Kuß gespitzt. Durch das herabwallende Haar schimmern geheimnisvoll ihre Reize. Oh, wie schön du bist, Jenny!
Dann nimm mich, Anselm! Ich vergehe vor Lust.
Der Weg führt dich in die Tiefe. Dunkelheit umgibt dich, kleine, pelzige Körper huschen um deine Füße. Sie fühlen sich naß und glitschig an. Aber was kümmert dich das? Irgendwo hinter der Dunkelheit wartet Jenny auf dich – die Frau deiner Träume.
Anselm!
Ihr Ruf ist ein Bitten und Flehen; und ihr Körper, so nah und doch noch so fern, ist die Inkarnation der Begierde. Irrlichter tauchen auf, umflirren dich. Es wird hell. Du siehst deine Jenny nun deutlicher denn je. Du eilst auf sie zu – und diesmal weicht sie nicht mehr zurück. Was du nun siehst, ist keine Illusion mehr. Es ist Jenny, wahrhaftig in Fleisch und Blut.
Sie liegt auf der Seite, die Beine überkreuzt, auf ihrem Lager – einem Himmelbett. Und nun bist du bei ihr. Du fällst ihr in die Arme, und die Welt versinkt um dich. Ihr heißer Atem, der stoßweise kommt, bringt deine Haut zum Glühen. Der Mantel öffnet sich vorn, du beugst dich über Jenny – deine Jenny. Eure Körper vereinigen sich.
»O Geliebter!« haucht sie. »Wie lange habe ich diesen Augenblick herbeigesehnt! Sei zärtlich zu deiner Jenny! Ganz zärtlich! Enttäusche mich nicht! Bitte, bitte zeig mir, daß alles so ist, wie ich es in meinen Träumen erlebte! Ich will nur dich, Anselm, wollte nie einen anderen Mann. Aber ich hatte nicht den Mut …«
Du breitest den Mantel über sie, wie eine Decke, und wickelst dich mit ihr darin ein. Du bist wie berauscht, willst nur diesem zauberhaften Wesen gehören, das nur dich will.
Julie!
»Ich bin eifersüchtig, Anselm!«
Nicht an Julie denken! Sie ist nichts als deine Begleiterin für den Tag. Hier hast du deine Gefährtin für die Nacht.
»Ich werde es nicht dulden, daß du neben mir noch eine andere Frau liebst, Anselm.«
Für einen Moment erlischt der Zauber. Du denkst: Was ist mit den anderen Männern, die du außer mir hast, Jenny? Womöglich hast du das auch laut gesagt, denn Jenny gibt dir Antwort.
»Die anderen Männer waren nur ein schlechter Ersatz für dich, geliebter Anselm. Ich habe immer nur dich geliebt, seit ich dich zufällig vor vier Vollmonden sah. Doch ich hatte nicht den Mut, dir meine Liebe zu zeigen. Deshalb – und nur deshalb rief ich deine Freunde – einen nach dem anderen. Aber sie haben mich enttäuscht. Sie konnten mir nicht das geben, was ich von dir
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