0246 - Im Räderwerk der Unterwelt
Personen als unverdächtig anzusehen und aus seinen Betrachtungen und Nachforschungen auszuschließen. Mütter haben schon ihre Kinder, Männer ihre Frauen, Geschwister sich untereinander umgebracht. Es gibt grundsätzlich niemanden, der unverdächtig ist. Faustregel Nummer eins für die Bearbeitung von Mordfällen.
An diese Regel musste ich denken, als ich den Hörer auflegte. Der Anwalt hatte uns angerufen und uns eine reichlich mysteriöse Geschichte erzählt. Es käme ihm so vor, als werde sein Sohn erpresst. Reine Vermutung. Er hatte keinerlei Beweise dafür, und angeblich wusste sein Sohn auch nicht, dass er uns deshalb anrief. War das Tatsache? Oder wollte er uns nur in die Wohnung locken, damit er hinterher sagen konnte: Bitte, also ich bin ja nun wirklich unverdächtig, ich habe die Polizei doch selbst geholt?
Ich machte ein paar Züge aus meiner Zigarette und wollte gerade zurück ins Wohnzimmer gehen, als mir auf dem Notizblock eine Telefonnummer in die Augen sprang. Es war nicht etwa eine Nummer, die ich kannte. Ich registrierte nur, dass überhaupt eine Nummer auf dem Block stand. Vorsichtshalber zog ich mein Notizbuch und beugte mich vor, um die Nummer abzuschreiben.
Und dabei sah ich eine zweite Telefonnummer. Jemand musste sie auf dem Block notiert und danach das Blatt abgerissen haben. Aber er hatte beim Schreiben so aufgedrückt, dass sich die Nummer durchgedrückt hatte in das nächste Blatt. Wenn man nun aus dem richtigen Blickwinkel auf das Papier sah, konnte man die Eindrücke deutlich entziffern. Man konnte sogar sehen, dass die durchgedrückte und die auf dem Blatt wirklich aufgeschriebene Nummer von ein und derselben Hand geschrieben sein mussten. Es war zweifellos dieselbe charakteristische Handschrift, die beide Zahlen geschrieben hatte, wenn man von der zweiten auch nur noch den Abdruck lesen konnte.
Ich schrieb mir beide Zahlen auf und notierte dahinter, welche die geschriebene und welche die durchgedrückte Zahl war.
Als ich fertig war und mich wieder aufrichtete, stieß ich beinahe gegen den Diener. Der Kerl musste die ganze Zeit hinter mir gestanden und mich schweigend beobachtet haben. Ich sah ihn scharf an. In seinem Gesicht zuckte keine Wimper.
***
Joe Conner seufzte, stülpte sich die Kopfhörer über und setzte sich auf seinen Drehstuhl, der aus Stahlrohr mit Schaumstoffkissen bestand und den Körperformen entsprechend so konstruiert war, dass man es auf ihm lange ohne Ermüdungserscheinungen aushalten konnte.
Gleich darauf drückte Joes Zeigefinger die Morsetaste.
QYB… QYB… QYB…
Immer wieder hämmerte er das Code-Rufzeichen der nächsten Station. Aber sosehr er sich auch Mühe gab, aus dem Äther drang keine Antwort. Nach fast einer Viertelstunde, als er sich beim besten Willen nicht mehr auf die drei Buchstaben konzentrieren konnte, gab er es auf, legte die Kopfhörer vor sich auf den Tisch und ging nach hinten in die Ecke, wo der Telefonapparat stand.
Er wählte eine Nummer und wartete.
»Tooele County, Sheriff Office«, sagte eine weibliche Stimme.
»Hier spricht Joe Conner«, sagte Joe in den Hörer und grinste unwillkürlich. »Hallo, Ruth! Wie geht’s?«
Eine Weile unterhielt er sich mit der Sekretärin des County Sheriffs. Sie kannten sich seit ihrer Schulzeit.
»Hast du was Besonderes?«, fragte das Mädchen nach einer Weile.
»Ja«, stieß Joe hastig hervor. »Beinahe hätte ich das vergessen. Gib mir doch mal den Sheriff, Ruth. Oder ist er nicht da?«
»Doch, Joe. Sheriff Leewater sitzt in seinem Office und plagt sich mit seiner verstopften Pfeife herum.«
Joe lachte, während er auf die Verbindung wartete. Leewaters verstopfte Pfeife gehörte zu dieser Gegend wie die Salzwüste und die Berge im Westen. Es gab keinen, der sich erinnern konnte, Sheriff Leewater je anders gesehen zu haben als mit seiner verstopften Pfeife. Angeblich reinigte er sie dreimal täglich. Trotzdem war und blieb sie seit Jahr und Tag verstopft.
»Leewater!«, knurrte ein sonores Organ.
»Hallo, Sheriff«, sagte Joe. »Tut mir leid, dass ich Sie stören muss. Würden Sie mir wohl einen Gefallen tun? Oder besser: Ralph Steven?«
»Also wem nun?«
»Uns beiden.«
»Lass hören!«, befahl Leewater mit seiner bekannten, prägnanten Kürze.
»Ralph müsste heute Dienst haben draußen auf der Station. Ich versuche aber schon seit über einer Stunde vergeblich, ihn zu erreichen. Er meldet sich nicht.«
»Meldet sich nicht?«, echote Leewater.
»Nein. Ich weiß nicht, ob
Weitere Kostenlose Bücher