025 - Die Treppe ins Jenseits
Strecke, und Orwin Baynes' Blick führte
zwischen den langstämmigen Bäumen in die zerklüftete Tiefe. Ein kleiner
Bergbach floss über verwittertes Gestein und hatte sich im Lauf der
Jahrtausende ein winziges, flaches Bett geschaffen. Wie ein armdicker
Wasserstrahl sprang derselbe Bach weiter oben aus seiner Quelle und stürzte in
die Tiefe.
Die kleine Straße führte auf ein moosbewachsenes Plateau. Kleine Büsche,
dünne Bäume waren vereinzelt zu erkennen. Wie die Mauern einer Festung breitete
sich vor Orwin Baynes das Anwesen aus, das sein Bruder Edward als ein Landhaus bezeichnet hatte.
Es war in der Tat mehr eine Festung als ein Landhaus – aus massivem
Felsgestein erbaut. Die Mauern schienen sich im Lauf der zwei Jahrhunderte,
seit es dieses Haus gab, mit dem Felsgestein im Boden verbunden zu haben. Die
Mauer umspannte in weitem Rund das große Grundstück. Kaum waren die Dächer des
länglichen Wohngebäudes zu erkennen, kaum die Giebel des genau
gegenüberliegenden Wirtschaftsgebäudes.
Graue, ständig zufließende Nebelschleier hüllten alles in eine Wolke von
Feuchtigkeit und Dunst, die vom nahen Meer her ständig frisch genährt wurde.
An einem klaren, sonnigen Sommertag aber war die Aussicht von hier oben
eine Pracht. Man konnte weit über das Meer hinaussehen, man sah die großen
Dampfer, die nach Dover hereinfuhren, man sah die majestätischen
Passagierschiffe, die nach Hongkong, nach New York oder Shanghai ausliefen.
Auch der heutige Tag war klar und sonnig gewesen, doch die frühen
Abendstunden brachten um diese Jahreszeit den obligaten Nebel, der so typisch
für diese Landschaft, so typisch für England ist.
Orwin Baynes fuhr vor das große, massive Eisentor. Die Auffahrt war ein
wenig abschüssig, und er zog die Handbremse an, bevor er den Wagen verließ, um
den breiten Klingelknopf in dem Betonpfosten neben dem Tor zu betätigen.
Er rechnete fest damit, dass Allan Carter, der Gärtner, ihm öffnen würde.
Er war das Faktotum, das hier lebte und arbeitete.
Doch niemand kam.
Mit einer mechanischen Bewegung pickte Orwin Baynes einen Fussel von seiner
Anzugjacke. Er war ganz in Schwarz gekleidet, selbst die Fliege, die er trug,
war schwarz.
Orwin Baynes sah seinem Bruder nur entfernt ähnlich. Er war auch schmaler
und nicht ganz so kräftig gebaut.
Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Warum öffnete Carter nicht?
Orwin drückte gegen das schwere Eisentor und musste zu seiner Überraschung
feststellen, dass es sich öffnen ließ. Es war nicht verschlossen! Lautlos und
verhältnismäßig leicht bewegten sich die beiden Torhälften in den gut geölten
Scharnieren.
War außer ihm schon jemand anders da? Einer der anderen Erbberechtigten,
die zur Testamentseröffnung erscheinen sollten? Orwin hatte beinahe damit
gerechnet, aber nun erkannte er, dass er sich getäuscht hatte.
Er ging einige Schritte in den großen Innenhof hinein. Alle Fenster in dem
Wohngebäude waren dunkel. Das Gebäude enthielt insgesamt sechsundzwanzig
Zimmer, dreizehn unten, dreizehn oben. Links von ihm breitete sich der
schuppenähnliche Anbau des Wirtschaftsgebäudes aus. Es gab dort eine eigene
Schlachtvorrichtung, mehrere Kühlräume und eine große Küche.
Vor ihm führte ein breiter, gepflegter Pfad zwischen den Rasenanlagen
direkt auf die geplättete Terrasse zu, von der aus 172 schmale, steile Stufen
zum Meer hinunterführten. Der Nebel war so dicht, dass Orwin Baynes in diesen
Sekunden jedoch nicht einmal den Treppenansatz erkennen konnte.
War Carter noch einmal nach Dover gefahren, um einige Besorgungen zu
machen? Der Anwalt Thomas Mylan musste ihn schließlich von den Ereignissen
unterrichtet haben.
Vielleicht hatte sich Carter nach Bekanntwerden des unerwarteten
Besucherstroms abgesetzt. Carter liebte die Menschen nicht. Er lebte
zurückgezogen und war ein weltfremder Sonderling. Orwin Baynes wusste, dass
Carter eigentlich nur Edward Baynes und dessen Familie wirklich geliebt hatte.
Edward war für ihn zu einer Art Heiligem geworden.
Orwin Baynes fuhr den Mercedes in den Innenhof und parkte ihn unmittelbar
neben dem großen Holztor des schuppenähnlichen Wirtschaftsgebäudes.
Das Eisentor der Einfahrt ließ er weit offenstehen. Über kurz oder lang
würden noch weitere Besucher eintreffen. Er war vorerst der Erste.
Orwin zündete sich eine Zigarette an, schritt langsam auf das längliche
Wohngebäude zu und ließ den Blick schweifen. Er war lange nicht mehr hier
gewesen, und dieses einsame Stück
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