0252 - Die Tochter des Totengräbers
Raum, den sie immer gehaßt und vor dem sie sich gefürchtet hatte.
Nun mußte sie ihn betreten.
Es gab da kein elektrisches Licht, aber jemand hatte vorgesorgt und mehrere dicke Kerzen angezündet, deren Flammen durch den nach innen strömenden Windzug anfingen zu flackern und gespenstische Bilder aus Licht und Schatten an die Wände und Decke malten.
»Nun geh schon, Mummy!« Es war ein Zischen, das Marion Price ausstieß, und dieses Geräusch duldete keinen Widerspruch.
Thelma nickte. Gleichzeitig drückte sie ihren Arm zurück und faßte nach hinten, um vielleicht die Hand ihres Mannes fassen zu können, wobei sie Glück hatte und seine Finger zwischen den ihren spürte, was ihr ein wenig Kraft und Stärke gab.
Zögernd setzte sie die ersten Schritte und übertrat die Schwelle des unheimlich zweiten Kellers. Augenblicklich war alles anders.
Thelma hatte das Gefühl, in einer anderen Zeit zu stecken. Der Odem der Jahrhunderte wehte ihr entgegen, bereitete ihr Angst, und sie zuckte zusammen, als die Fäden eines Spinnennetzes geisterhaft durch ihr Gesicht streiften. Modrige Luft wehte ihr entgegen, sie war verbraucht. Ein Wunder, daß die Kerzen brannten, aber sie erhielten durch die offenstehende Tür genügend Sauerstoff aus dem anderen Keller.
Unter den Füßen des Ehepaares knirschte der Dreck. Ihre Sohlen zermalmten kleinere Steine. Die Wände des Verlieses bestanden aus dicken Steinen, waren mit Schimmel überzogen, und in den einzelnen Fugen wuchs Moos.
Thelma Price bebte so sehr, daß sie nur noch auf Zehenspitzen voranging. Je tiefer sie in den unheimlichen Raum hineinschritt, um so mehr schälten sich die Personen hervor, die diesen Raum bevölkerten.
Es waren seltsame Menschen mit einer unnatürlichen glatten Haut, über die sich Thelma wunderte. Im Licht der Kerzen schimmerte die Haut rotgelb. Die Farbe wechselte, je nachdem, wie die stummen Menschen von dem Lichtschein berührt wurden.
Nicht einen Schritt ging Thelma weiter. Statt dessen spürte ihr Mann die Fingernägel seiner Frau. Sie stächen in den Handballen, und Jason Price zuckte zusammen, als er den scharfen Schmerz spürte.
Im Augenblick konnte er nicht erkennen, was Thelma so aus der Fassung brachte.
Waren es vielleicht die fünf Gestalten, die sich nicht rührten und wie Puppen dasaßen?
Ja, das mußte es sein.
Puppen!
Sie hatten Puppen vor sich, und irgendwie kamen sie Jason Price auch bekannt vor. Sie sahen aus wie Menschen, die in einem ewigen Schlaf lagen und nicht mehr in der Lage waren, sich zu rühren, und die auch keine Chance hatten, jemals aufgeweckt zu werden.
Als ein heftiger Knall durch den unheimlichen Raum schallte, zuckten beide zusammen.
Jason drehte sich um. Er sah in das lächelnde Gesicht seiner Tochter.
»Es war nichts, Dad. Ich habe nur die Tür zugeschlagen.« Sie trat langsam näher. Der Zombie blieb an ihrer Seite. Seine Hände öffneten und schlossen sich, und die Knochenfinger kamen Jason Price vor, als gehörten sie einer Marionette, die durch Fäden bewegt wurde.
Aber das Skelett war keine Marionette, sondern echt. Es lebte, es existierte, und es zog das Mädchen auf eine alte Truhe zu, die an der Wand stand und nur mehr als ein Schatten zu sehen war.
Stumm beobachteten Thelma und Jason Price, wie Marion den Deckel der Truhe anhob und ihr etwas entnahm. Als sie herumschwenkte, sahen beide, daß sie Papiere in der rechten Hand hielt.
Vergilbte Blätter, die mit Zahlen und Buchstaben beschrieben waren. So genau allerdings konnte es niemand erkennen, die Entfernung war zu groß und das Licht zu schlecht.
Das Gesicht des Mädchens blieb im Schatten. Scharf schoß nur der Arm hervor, und in der Hand hielt sie die Papiere wie eine Siegesfahne. »Das ist es«, sagte sie, und ihre Stimme hallte dumpf durch den Raum. »Das ist das Testament des Richters.«
Niemand gab Antwort. Keiner verstand sie so recht, weil sie das Testament nie interessiert hatte.
»Wollt ihr es nicht wissen?« fragte Marion flüsternd. »Ich erkläre euch alles…«
Ihr Vater nickte.
»Gut, dann hört zu. Sir Jeffries, der Richter, war Herr über Leben und Tod. Es oblag ihm, die Menschen zu richten. Aber er wollte mehr. Er hatte zwar die Macht, sie reichte ihm aber nicht aus. Er wollte sie vergrößern. Er spürte, daß er nicht allein stand, daß jemand in ihm war, der ihn leitete und dem er gehorchte. Es war jemand, dessen Namen man nie unbesonnen aussprechen darf, weil er überall ist und alles hört. Es ist der
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