0255 - Die Gefangene der Teufelsinsel
miterleben wollte, doch dieser Wunsch wurde ihm nicht erfüllt.
Marita blieb bei Bewußtsein. Und die Zeit verging.
Minuten verstrichen, ohne daß sich etwas tat. Das Monstrum blieb vor seinem Opfer hocken. Da sich die Wolken noch nicht richtig gelegt hatten, war es für Marita nur als gefährlicher Schatten zu erkennen, dessen Umrisse erst deutlicher wurden, als der meiste Sand wieder zu Boden gefallen war.
Erst da erfaßte das Mädchen die gesamte Größe des Meeresungeheuers.
Es war wie ein grüner schuppiger Berg, der da vor ihr hockte und in die Höhe ragte. Trotz ihrer Angst fiel ihr ein Vergleich ein. Sie kam sich vor wie eine Mücke, die vor dem Elefanten hockt und darüber nachdenkt, ihn besiegen zu können.
Marita fiel nichts ein. Auch wenn sie nicht gefesselt gewesen wäre und Waffen gehabt hätte, dieses Monstrum war unbesiegbar. Obwohl sie sich in dieser schlimmen Lage befand, dachte sie dennoch weiter, wobei sie sich fragte, weshalb der Drache sie nicht vernichtete.
Irgend etwas hielt ihn davon ab oder schien ihn zu stören. Marita faßte sich ein Herz und schaute auf das Maul des Untiers. Dann glitten ihre Blicke höher und erfaßten auch die Augen.
Sie sah die runden Kugeln vor sich, die blaßrote Farbe darin, und sie stellte fest, daß der Blick dieses Ungeheuers überhaupt nicht mehr auf sie gerichtet war, sondern an ihr vorbeiglitt.
Der Drache hatte ein anderes Ziel gefunden!
Aber welches?
Marita verspürte eine so große Angst, daß sie sich nicht traute, ihren Kopf zu drehen. Erst als der Blick des Monstrums nach wie vor die Stelle irgendwo hinter ihr suchte, da drehte sie sich in ihren Fesseln und schaute zurück.
Zuerst glaubte sie an eine Halluzination. Was sie da sah, das konnte sie nicht fassen, das gehörte überhaupt nicht auf die Insel und mußte eine Einbildung sein.
Auf dem Hügel stand eine schwarzhaarige Frau.
Und sie stützte sich mit beiden Händen auf den Griff eines Schwertes, das eine goldene Klinge besaß…
***
Marita atmete tief ein. Es war die erste Reaktion nach ihrer überraschenden Entdeckung.
Eine Frau auf dieser Insel!
Eine zweite Frau sogar.
Wer konnte das begreifen?
Sie nicht, aber daß die Person kein Trugbild war, das erkannte sie nun, denn sie bewegte grüßend ihren Kopf in die Richtung der Gefangenen.
»Ein Engel!« hauchte das Mädchen. »Mein Gott, das muß mein Schutzengel seih.« Etwas anderes fiel ihr nicht ein. Sie mußte ihren Gedanken in Worte fassen, um sich auf diese Art und Weise Luft zu verschaffen.
Aber Engel sehen anders aus. Wenigstens besaß sie diese Erinnerung noch aus der Kindheit. Engel waren meistens blond, sie besaßen auch Flügel. Diese Frau hatte von beidem nichts an sich. Nur das Schwert mit dieser goldenen Klinge kam ihr vor wie etwas Heiliges, vor dem man Respekt haben mußte.
Ansonsten sah die Frau normal aus. Sie trug ein langes Kleid, das in einem Orangeton schimmerte. Der Wind spielte mit dem Stoff und bauschte ihn unterhalb des Taillengürtels auf. Er fuhr auch gegen die Haare der Unbekannten, wobei er sie ebenfalls aufblähte und flattern ließ.
Noch hatte sie sich nicht bewegt, und Marita war gespannt, was sie wollte.
Sie erfuhr es in den nächsten Sekunden.
Zuerst drehte die Unbekannte sich um. Sie tat dies mit langsamen Bewegungen und wandte der Gefangenen den Rücken zu, wobei Marita Angst hatte, daß die Unbekannte verschwinden würde.
Das tat sie nicht. Im Gegenteil, sie holte Verstärkung. Marita glaubte, ihren Augen nicht trauen zu können, als auf der Hügelkuppe plötzlich die Gestalt eines Mannes erschien.
Ein Urmensch!
Dieser Gedanke kam ihr. Obwohl die Entfernung ziemlich groß war, glaubte sie dennoch, in diesem Mann eine Person zu erkennen, wie sie in der Steinzeit gelebt hatte.
Bis auf einen Lendenschurz war er nackt. Der Schurz schimmerte dunkelbraun. Er schien aus einem Fell gefertigt zu sein. Auch die Hautfarbe des Kriegers besaß eine bräunliche Tönung. Der Beweis, daß der Mann sich lange in der Sonne aufgehalten hatte.
Und er besaß noch etwas.
Ein Schwert.
In leicht geduckter Stellung stand er neben der schwarzhaarigen Frau, schaute sie an und folgte mit seinem Blick ihrem Arm, den sie erhoben hatte und mit dem ausgestreckten Zeigefinger in Richtung Strand wies.
Zu sagen brauchte sie nichts. Jedenfalls hörte Marita kein Wort. Die Schwarzhaarige nickte nur.
Der Urmensch verstand das Zeichen. Er reckte seine Schultern, spielte mit den gewaltigen Muskeln, schwang sein
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