0255 - Die Gefangene der Teufelsinsel
auch, daß es die fremde Frau nicht mehr auf der Hügelkuppe hielt. Sie setzte sich in Bewegung und kam langsam das abfallende Gelände herunter, wobei sie den rechten Arm angehoben hatte und die goldene Schwertklinge über ihrer Schulter lag.
Jetzt wollte sie gegen den Drachen antreten!
Marita brauchte keine große Hellseherin zu sein, um dies erkennen zu können. Es war halt so. Eine Frau gegen das unheimliche Monstrum, das erst vor kurzem einen Gegner verschlungen hatte.
Konnte die Fremde den Kampf überhaupt gewinnen?
Nein!
Marita schüttelte den Kopf, als sie sich eine Antwort auf diese Frage gab.
Es war unmöglich. Sie brauchte sich die Frau mit den schwarzen Haaren ja nur anzusehen. Von der Körpergröße her wirkte sie wie ein Wurm im Vergleich zu dem Drachen. Auch wenn sie das Schwert mit der schmalen, leicht gebogenen Klinge besaß, sie würde damit die Panzerhaut des Monstrums kaum knacken können.
Furcht zeigte sie nicht.
Kerzengerade und mit hochaufgerichtetem Kopf schritt sie den Hügel hinab, um ihr Ziel zu erreichen. Das Gesicht war dabei unbewegt. Nur in den Mundwinkeln schien ein Lächeln festgefroren zu sein.
Marita faßte sich ein Herz. Sie sprach die Fremde an und rief ihr die Worte entgegen: »Wer bist du?«
Ohne ihren Gang zu unterbrechen, antwortete die Schwarzhaarige mit einer Gegenfrage: »Weshalb willst du das wissen?«
»Damit ich weiß, wen der Drache als nächsten tötet«, erwiderte Marita illusionslos.
»Ich bin Kara!« hörte das Zigeunermädchen. »Ob ich getötet werde, steht noch nicht fest.«
»Aber du kannst das Untier nicht besiegen.« Die Stimme des Zigeunermädchens klang verzweifelt. Marita beugte sich in ihren Fesseln vor, und die einzelnen Kettenglieder klirrten gegeneinander.
Kara sagte nichts mehr. Sie hatte Marita und den Schlangenbaum mittlerweile passiert und konzentrierte sich nur auf den Drachen. Mit einer nahezu lässig anmutenden Bewegung nahm sie das Schwert von ihrer Schulter und hielt es vorgestreckt in der rechten Hand, wobei die Klinge auf das Ziel deutete.
Aus seinen rot geäderten Augen fixierte der Drache mit tückischem Blick die neue Gegnerin.
Marita wollte es nicht, aber sie konnte nicht mehr. Die Tränen kamen automatisch. Sie weinte um diese stolze Frau, die sich nicht scheute, sich dem Monstrum zu stellen.
Der Drache schüttelte seinen Schädel. Er bewegte zudem noch seine Flügel oder Schwimmflossen, wühlte abermals den Staub auf und walzte im nächsten Augenblick mit weit geöffnetem Rachen vor, um Kara zu verschlingen…
***
Keiner von uns wußte genau, wer die Tür aufgestoßen hatte. Das spielte auch keine Rolle. Wichtig war einzig und allein der Todesnebel, der nun freie Bahn hatte, um sein grausames Werk vollenden zu können.
»Zurück!« schrie ich den anderen zu. »Verzieht euch in die hinterste Ecke!« Ich wußte nicht, ob man dein Befehl nachkam. Ich vernahm nur die Geräusche von Schritten und drückte die Daumen, daß meine Freunde so vernünftig waren.
Tief atmete ich durch.
Es war ein letzter freier Atemzug vor dem Nebel, der als runde Wolke in den Wagen strömte und sich dabei wie eine Wand vor mir aufbaute.
Ich warf noch einen Blick auf die Stufen der einfachen Holztreppe. Dort sah ich ein Skelett in verkrümmter Haltung liegen. Es war der Mann, der uns gewarnt hatte und vom Todesnebel nicht mehr verschont geblieben war.
Wieder einmal stand ich allein diesem unheimlichen Nebel gegenüber. In der Hand mein Kreuz, die einzige Sicherheit, um ihn zu stoppen.
Der Nebel lebte!
In seinem Innern klangen die Stimmen auf. Verwehende Schreie, ein leises Jaulen, ein widerliches Heulen, unheimlich weit und dennoch nah.
Die Geister, aus denen sich der Nebel zusammensetzte, waren siegessicher. Sie wollten mich, sie wollten uns, damit wir als Skelette zurückblieben.
Das Kreuz erwärmte sich bereits. Es spürte die Nähe des unheimlichen Nebels. Die geisterhaften Seelen strahlten eine magische Aura aus, die genau gegensätzlich zu meiner wertvollsten Waffe stand, und als ich den ersten Kontakt mit dem Nebel bekam, da fühlte ich, wie seine Schlieren leicht über meinen Arm rannen und ein leichtes Brennen auf der Haut verursachten.
Versagte das Kreuz?
Nein, es versagte nicht.
Ich brauchte es nicht zu aktivieren. Keine Fremdmythologie griff ein. Die normalen Kräfte des Kreuzes räumten den Nebel zur Seite.
Sie rissen Löcher.
Gleichzeitig sah ich die kleinen Blitze innerhalb der Wolken. Wie lange, extrem dünne Dinger
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