0264 - Nachts, wenn der Wahnsinn kommt
Scheiben waren getönt, die Scheinwerfer erinnerten mich an gewaltige Glotzaugen.
Ich war stehengeblieben. Die anderen liefen fast gegen mich, und ich drehte mich zu Palazzo um. »Ist das unser Empfangskomitee?« fragte ich ihn.
Der Kommissar hob die Schultern. »Das sieht mir ganz nach einer Abordnung der Mafia aus«, gab er zu.
Und er hatte recht. Denn plötzlich schwangen vier Türen auf, und vier Männer verließen den Wagen.
In London hätten sie sich dies kaum erlauben können, aber in Palermo war man wohl daran gewöhnt, daß Männer auf offener Straße mit Maschinenpistolen herumliefen…
»Verdammt, das gilt uns«, sagte Suko, und er hatte recht, denn im nächsten Augenblick begann das mörderische Feuerwerk…
***
Carla Bergamo war ein hübsches Mädchen. Ihr feingeschnittenes Gesicht mit den großen Kirschenaugen glich dem eines Engels, auch wenn ihr Vater ein Teufel war.
Von den Augen wanderte der Blick des Betrachters zumeist auf den Körper des Mädchens. Es war schlank, fast schon zu schlank, und insgesamt wirkte Carla zerbrechlich wie eine kostbare Porzellanpuppe.
Doch der Engel hatte Energie. So schmal und zierlich sie auch wirkte, in Carlas Körper steckte eine Kraft, die niemand unterschätzen sollte. Was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, das führte sie auch durch. Ihr Wille war ungebrochen. Wahrscheinlich hatte sie ihn von ihrem Vater geerbt, denn Luigi Bergamo war der große Mann in Palermo. Der Capo, der Herr über zahlreiche Menschen. Ob Killer oder Zuträger, sie gehorchten Luigi Bergamo.
Er hing sehr an seiner Tochter. Für Carla hätte er alles gegeben, und sie konnte auch mit ihrem Vater machen, was sie wollte. Wenn es jemand schaffte, den eisenharten Mann um den Finger zu wickeln, dann war es seine Tochter Carla.
Sie hatte es oft genug versucht und ihm vor allen Dingen immer ins Gewissen geredet. Carla war nicht dumm sie wußte, woher das Geld in der Familie kam, und sie empfand es als abscheulich. In die Schule allerdings war sie freiwillig gegangen, das heißt, man hatte sie nicht allzu lange überreden müssen, doch auch hier spürte sie den langen Arm des Capo, und selbst die Lehrkräfte begegneten ihr mit einem gewissen Respekt, so daß sich Carla trotz der Mitschülerinnen ziemlich einsam fühlte.
An diesem Vormittag herrschte eine gedrückte Stimmung unter den Mädchen. Es gab keines, das die Lautsprecherstimme der Propow nicht gehört hatte. Jedes Zimmer war mit einem Lautsprecher ausgerüstet. Oft wurden am Abend die Aufgaben für den nächsten Tag durchgegeben, und kaum daß die Mädchen aus den Betten waren, mußten sie noch vor dem Frühstück im Ballettsaal antreten.
Da standen sie nun.
22 junge Mädchen. Die meisten von ihnen schon in der Arbeitskleidung.
Sie alle trugen Trikots, hatten entweder Schals um die Hälse geschlungen oder sich dünne Pullover um die Schultern gelegt. Sie machten zwar einen lockeren, dennoch sehr gespannten Eindruck, und bei einigen stach auch die. Müdigkeit ins Auge.
Carla Bergamo fühlte sich ebenfalls nicht gerade wohl. Sie konnte sich selbst in der großen Spiegelwand gut erkennen, da sie in der ersten Reihe stand. Das schmale Gesicht schien grau zu wirken, als hätte sie die ganze Nacht durchgemacht und nicht tief und fest geschlafen.
Ja, tief hatte sie geschlafen. Sie konnte sich kaum erinnern, daß sie ins Bett gefallen und eingeschlafen war. Den anderen Mädchen war es ähnlich ergangen, wie sie vor dem Antreten flüsternd erzählten.
Der Ballettsaal war kalt eingerichtet. Da verschönerte kein buntes Bild die kahlen Wände. Hier roch es nach Arbeit. Ein schwarzer Flügel stand aufgeklappt nahe der großen Doppeltür des Eingangs. Rechts von ihm zog sich die Stange an der freien Wand hin. Sie war das Arbeitsgerät der Mädchen, und hier wurden die meisten Schweißtropfen vergossen. Der Parkettboden federte leicht nach, wenn die Mädchen tanzten, und über sich sahen sie ein Dach aus Glas.
Noch ließ sich die Propow nicht sehen. Die Schülerinnen flüsterten miteinander. Jede fragte sich, welchen Grund es für dieses frühe Antreten geben könnte.
Bis jemand rief: »Da fehlt ja Franca!«
Für einen Moment war es still. Die Mädchen schauten sich an. Erst fragend, danach verständnislos, schließlich besorgt.
»Hat jemand von euch Franca gesehen?«
Kopfschütteln.
»Du auch nicht, Carla?«
»Nein.«
»Aber sie war doch deine Freundin.«
»Wir haben aber nicht zusammen geschlafen.«
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