0264 - Nachts, wenn der Wahnsinn kommt
Bricci wußte mehr. Er hat herausgefunden, wohin der See im Stein unter der Erdoberfläche gewandert ist. Und zwar in ein Gebiet, das ungefähr 40 Kilometer Luftlinie von hier entfernt liegt und sich innerhalb vulkanischer Berge befindet. Kannst du das bestätigen, Bricci?«
Der alte Mann nickte nur.
»Bene. Also weiter. Der See im Stein muß zur Ruhe gekommen sein in dem Landstrich von dem ich sprach. Und dort befindet sich ein Haus, eine Schule, ein Internat. Mädchen werden dort ausgebildet. Sie bekommen einen normalen schulischen und einen tänzerischen Unterricht. Meine Tochter ist auch in diesem Internat. Sie schwebt in höchster Gefahr, wenn Sie jetzt verstehen.«
Ich lächelte knapp. »Das glaube ich Ihnen sogar, Bergamo. Aber wäre es für Sie nicht ein leichtes, Ihre Tochter aus der Schule zu holen? Sie brauchen doch nur ein paar Männer zu schicken.«
Er winkte barsch ab. »Natürlich, das ist alles richtig. Nur will ich die Gefahr gebremst sehen, das ist es. Der See im Stein soll nicht mehr weiterwandern können. Die Entfernung zu Palermo ist gering. Und dann schweben — Tausende von Menschen in höchster Lebensgefahr. Eine Stadt würde zerstört werden. Die Menschen würden vielleicht Diener eines schrecklichen Götzen werden. Ich weiß von meinem Freund Logan Costello, daß es Dinge gibt, die man verstandesmäßig kaum erfassen kann, obwohl sie existieren. Dazu zähle ich auch diesen See im Stein. Sie sind deswegen gekommen, aber holen Sie auch meine Tochter heraus!«
»Sie trauen uns viel zu«, sagte Suko.
»Das macht Ihr Ruf. Er ist bis nach Sizilien vorgedrungen. Und haben Sie nicht schon in unserem Land einen Fall gelöst?«
»Das stimmt«, gab ich ihm recht.
»Dann lösen Sie diesen hier auch!« Bergarno schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Und jetzt werden wir etwas trinken. Was meinen Sie?«
Ich hatte wirklich Durst und kam mir auch nicht schäbig vor, Fruchtsaft anzunehmen.
Als wir die Gläser in den Händen hielten, saßen wir wie Geschäftsleute in einer Sitzecke zusammen und redeten über den Fall. Bei mir war es ein Novum, mit einem Mafiaboß so lässig zu plaudern.
»Können wir dann Einzelheiten besprechen?« wandte ich mich an Luigi Bergamo.
Der Capo nickte. »Selbstverständlich«, erwiderte er, drückte auf einen Knopf unter dem Tisch, und ein Butler in weißer Livree erschien. »Die Unterlagen!«
Der Knabe verschwand. Er kehrte wenig später mit einem Aktenordner zurück und legte ihn auf den Tisch zwischen uns. Bergamo nickte und drapierte seine Hand auf die Unterlagen.
»Lesen Sie sie in Ruhe durch, und sagen Sie mir anschließend, was Sie benötigen. Ihnen steht zur Verfügung, was Sie brauchen, nur holen Sie meine Tochter zurück.« Er schaute uns jetzt scharf aus seinen gletscherkalten Augen an. »Sollten Sie es nicht schaffen, werden Sie in Siziliens Erde begraben. Mein Wort darauf!«
***
Das heiße Wasser jagte aus den Duschtassen, strömte auf die nackten Körper der Mädchen und produzierte mächtige Dampfwolken, die eine Sicht innerhalb des Duschraums fast unmöglich machten.
Durch das Prasseln waren hin und wieder die hellen Stimmen der Schülerinnen zu hören. Sie allerdings klangen nicht so lustig wie an den übrigen Tagen. Das Verschwinden von Franca Mundi hatte doch seine Schatten hinterlassen.
Carla Bergamo beeilte sich. Sie war sonst immer eine der letzten beim Duschen, doch heute hatte sie es eilig. Wenn die anderen Mittagsruhe hielten, um sich für den am Nachmittag folgenden Unterricht vorzubereiten, wollte sie auf Entdeckungsreise gehen. Sie war zwischendurch in der kleinen Werkstatt gewesen, hatte sich eine Taschenlampe besorgt und einen Dietrich, mit dem man normale Schlösser knacken konnte, denn die entsprechenden Türen waren allesamt abgeschlossen.
Die frische Kleidung lag bereit. Eine helle Leinenhose, ein rotes T-Shirt und Turnschuhe, in denen sie fast lautlos laufen konnte.
Das war vor allen Dingen wichtig, denn niemand sollte sie hören, wie sie durch die Gänge schlich.
Ohne daß die anderen es bemerkten, verdrückte sich Carla Bergamo.
Sie schlüpfte aus dem Duschraum, lief den langen Gang entlang und wandte sich der Küche zu, um dort noch einen Blick hineinzuwerfen. Die beiden großen Spülmaschinen liefen. Zwei Frauen in hellblauen Kitteln standen daneben und räumten schon gesäubertes Geschirr in die Regale.
»Ist Maria nicht da?« fragte Carla.
»Nein, sie ist weg«
»Danke, das wollte ich nur wissen.« Carla lächelte
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