0264 - Nachts, wenn der Wahnsinn kommt
wandten sie sich nicht dem Ausgang zu, sondern schritten in die Hallenmitte hinein. Für einen Moment war ich der Ansicht, daß sie das Büro betreten wollten, in dem ich mich versteckt hielt, doch meine Sorge wurde in den nächsten Sekunden abgeschwächt, denn die Mädchen blieben in der Hallenmitte stehen und verteilten sich.
Sie bauten keinen Halbkreis, sondern stellten sich in einer zweigliedrigen Reihe auf.
Die Lehrer am Anfang und am Ende der Reihen daneben.
Das sollte verstehen, wer wollte. Ich jedenfalls nicht. Wir waren doch nicht beim Militär.
Stille senkte sich über die Halle. Es war wieder ein wenig dunkler geworden. Nur noch sehr schwach fiel das Licht durch die Fenster, malte Schatten auf den Boden, die, je nach Fensterform, breiter oder schmaler waren.
Fast eine Minute verging, bis sich etwas tat.
Im Hintergrund quietschte eine Tür. Ein Geräusch, das die Stille überlaut durchschnitt, wobei ich noch gespannter wurde und den Spalt um eine Idee vergrößerte.
Jetzt war mein Sichtwinkel besser. Ich konnte einen weiteren Teil der Halle überblicken.
Wieder erklangen Schritte. Diesmal jedoch nicht weich, sondern hart und fordernd. Derjenige, der sich aus dem Dämmer löste, wußte genau, was er wollte, denn er ging mit einer Zielstrebigkeit voran, die auch Selbstvertrauen dokumentierte.
Ich dachte daran, was mir Luigi Bergamo über den Leiter der Schule berichtet hatte. Es war eine Frau. Propow hieß sie. Und diese Frau hatte ich bisher noch nicht zu Gesicht bekommen, was sich allerdings in den nächsten Sekunden änderte.
Trotz der miserablen Lichtverhältnisse erkannte ich, daß es ein Typ war, mit dem man nicht gut Kirschen essen konnte. Sie machte einen strengen, herrischen Eindruck, und so blieb sie auch vor den Schülerinnen stehen.
Ich ließ meinen Blick wieder über die Mädchen gleiten und versuchte, in den fleckenhaft wirkenden Gesichtern das der Carla Bergamo herauszufinden. Es war mir nicht möglich.
Die Propow räusperte sich. Es war ein kurzes, trockenes Geräusch, und die Augen der Schülerinnen richteten sich auf sie. Dann begann sie mit ihrer Rede.
Schon der Stimme konnte ich entnehmen, daß sie Gefühle kaum zeigen würde. Vielleicht hatte sie auch keine.
Zudem sprach sie von Gorgos und dessen Erweckung.
»Gorgos«, sagte sie mit zischender Stimme. »Gorgos wird euch holen. Er hat lange gewartet, seine Wanderung ist nun beendet. In den Tiefen der Erde begann es zu rumoren, die Vulkane setzten ein Zeichen. Sie wollten nicht mehr. Der See im Stein mußte einmal zur Ruhe kommen. Das ist geschehen. Gorgos, der Kristallgötze, kann sich befreien, und er wird sich Diener und Dienerinnen holen. Ihr seid die ersten, die ihm gefallen haben.«
Die Mädchen hörten die Worte, aber sie reagierten nicht. Starr und ausdruckslos blieben ihre Gesichter. Auch bewegten sie weder Arme noch Beine. Die Körper verharrten in der steifen Haltung.
Das konnte ich durch den Türspalt genau erkennen. Meiner Ansicht nach mußten sie unter Drogen stehen.
Die Frau sprach weiter. »Ihr werdet diesen Raum gleich verlassen und nach draußen auf einen Friedhof gehen. Ihr kennt diesen Friedhof nicht, nur wenige wissen von ihm. Er ist aus der Erde des Unheils entstanden. Die weißen Kreuze stehen für die Opfer, die Gorgos bereits in all den langen Jahren verschlungen hat. Es gab Menschen, die den See im Stein fanden, aber nicht auf die Warnungen hörten. Gorgos hat sie verschlungen, und sie führten in der Tiefe der Erde ein Leben weiter, das ihr mit dem Tod umschreibt. Sie vergingen aber nicht, ihr Fleisch löste sich nicht auf. Als Kristallmenschen schwammen sie weiter und wanderten mit ihm bis zu diesem Punkt. Ich bin die Hüterin des großen Gorgos und fast so alt wie er, bin zuerst zurückgekommen und habe dafür gesorgt, daß dieser Friedhof hier angelegt wurde. Ich wußte, wann er kommen wollte. Ich habe den Keller der Schule umbauen lassen. In ihm gibt es einen direkten Zutritt zu Gorgos. Ich habe euch immer verboten, bestimmte Räume des Kellers zu betreten. Das tat ich nicht ohne Grund, denn dort befinden sich die Wege. Stollen in die Unendlichkeit, in die Unterwelt. Gorgos kommt, und er wird alles verändern. Die Kristallmenschen werden regieren. Ihre Macht breitet sich aus. Seid froh, daß ihr ihm dienen könnt. Eine aber«, und jetzt erhob die Propow ihre Stimme, »hat nicht auf mich gehört. Es war eure Freundin Carla Bergamo. Sie wollte mehr wissen und betrat den Keller. In diesen
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