029 - Der Unheimliche
und geknebelt war, daß sie kaum noch menschenähnlich aussah. Chang war noch besinnungslos, als die Stricke gelöst und die Handschellen entfernt waren.
»Hier hat kein Kampf stattgefunden«, stellte Amery fest, als er sich in der Speisekammer umsah, in der Chang aufgefunden worden war. Feng Ho ging in die Küche und kehrte mit einer Schüssel Wasser zurück.
»Sie sind durch die Küche gekommen«, meldete er, »das Fenster steht offen.«
Amerys europäische Angestellte schliefen nicht im Haus, der letzte von ihnen ging gewöhnlich um halb elf fort, also mußte der Einbrecher nach dieser Zeit eingestiegen sein.
»Sie haben meine Aktentasche mitgenommen«, stellte Amery fest, nachdem er die auf dem Boden verstreuten Papiere durchgesehen hatte. Er wies auf eine Stahlkassette. Das Schloß war herausgerissen worden, und der Platz im Schreibtisch, wo die Kassette gestanden hatte, war demoliert.
Es war eigentümlich, daß keinem der beiden Männer einfiel, die Polizei zu holen. Als Feng Ho zurückging, um nach dem halb leblosen Chinesen zu sehen, nahm Amery den Hörer auf, doch die Polizei rief er nicht an.
»Das muß vor einer halben Stunde geschehen sein«, meinte der Unheimliche nachdenklich, nachdem er sein Telefongespräch beendet hatte und Feng Ho zurückgekehrt war. »Schnelle Arbeit!«
Wieder nahm er den Hörer auf und wählte eine Mayfair-Nummer. Ohne daß er lange zu warten brauchte, meldete sich Ralf Hallam.
»Sind Sie es, Hallam?«
»Ja!« kam die Antwort. Die Stimme war nicht zu verkennen.
»Dann sind Sie also zu Hause!« stellte Amery lächelnd fest, und bevor eine Antwort zurückkam, hatte er den Hörer niedergelegt.
»Schnelle Arbeit!« wiederholte er. »Hilf mir das Zeug zusammenzupacken! Wo hast du Chang gelassen?«
»Ich habe ihn auf sein Bett gelegt. Er ist etwas durcheinander, aber nicht verletzt«, bemerkte Feng Ho kaltblütig. »Er wird am Leben bleiben.«
Chang blieb nicht nur am Leben, sondern war nach einer Stunde bereits wieder äußerst munter und rief seine Hausgötter zur Vernichtung seiner Feinde auf.
»Ich war eingeschlafen, Tao«, bekannte er offen, »und ich wußte nicht, was geschah, bis mein Kopf in einem Sack steckte und meine Hände gebunden waren.«
»Wenn du wach gewesen wärst, würdest du jetzt für immer schlafen, Chang!« äußerte Amery bedeutungsvoll.
Er verbrachte den Rest der Nacht mit dem Ordnen seiner Papiere, aber die wichtigsten Dokumente fehlten. Morgen mußte er zeitig im Büro sein. Dort waren ebenso wichtige Sachen, und die durften nicht gefunden werden.
36
Mitten in der Nacht erwachte Elsa mit einem Gefühl großer Unruhe und konnte keinen Schlaf mehr finden.
Sie schaute auf die Uhr, es war vier. Dann fielen ihre Blicke auf die alte Kiste, die Ralf und Amery interessierte. Sie öffnete den Deckel, hob die drei obersten Fächer heraus und versuchte, auch das vierte zu heben, doch es war fest angeschraubt und bewegte sich nicht. So gab sie es auf.
Kurz nach acht Uhr war sie schon in der Wood Street und überlegte, ob das Büro schon offen wäre. Es war nicht nur offen, sondern auch andere zeitige Besucher hatten sich schon eingefunden. Zwei Männer unterhielten sich im Torweg, und in dem einen erkannte Elsa Kriminalinspektor Bickerson. Während er mit seinem Begleiter langsam die Straße hinaufging, war sie im Eingang verschwunden und stieg die Treppe hinauf, um in Amerys Zimmer mit der Arbeit zu beginnen.
Die Tür stand weit offen. Sie konnte deutlich Schritte auf der Treppe hören und erkannte Bickersons Stimme, als die Männer ihr Zimmer betraten. Elsa hob den Kopf und lauschte.
»Er wird um neun Uhr hier sein. Ich möchte lieber, daß die Durchsuchung in seiner Anwesenheit geschieht«, sagte der Fremde, und aus Bickersons ehrerbietiger Antwort war ersichtlich, daß der andere sein Vorgesetzter war.
»Wie Sie wünschen. Ich habe vom Durchsuchungsbefehl noch keinen Gebrauch gemacht, aber die Auskunft von heute morgen läßt keinen Zweifel darüber, daß das Zeug hier im Hause ist. Neben dem Kamin ist ein Schrank, den ich beim letzten Besuch bemerkte.«
Elsa horchte atemlos. Sie schaute sich um und sah den langen, schmalen Schrank, den Major Amery nie benutzte. Was war das ›Zeug‹? Sollte sie Amery warnen?
Da kam jemand auf die Tür zu.
»Ich will es Ihnen zeigen«, erklärte Bickerson.
Elsa schaute sich um, und im Nu war sie in dem Kämmerchen verschwunden, das Amery als Wasch- und Garderobenraum diente - gerade zur rechten
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