029 - Der Unheimliche
Gaiety-Theater. Der große Mann ist Lord Sterrer. Wie die Vogelscheuche heißt, mit der er tanzt, weiß ich nicht.«
Elsa starrte sprachlos auf Lord Sterrers Tänzerin. Es war eine große, überschlanke Frau, an der die Kleider nur so hingen. Ihre Ohren, ihr Hals und die Haare glitzerten von Diamanten. Die Augen hielt sie halb geschlossen und schien sich ganz dem Genuß des Tanzes hinzugeben.
Es war die romantische Miss Tame.
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Kein Zweifel, das war Jessie Tame, an der die Diamanten blitzten und die im vornehmsten Londoner Nachtklub tanzte. Als die Musik schwieg und Jessie heraufblickte, lehnte Elsa sich zurück, um nicht gesehen zu werden.
»Ist da jemand, den du kennst?« fragte Ralf.
»Ja, die Dame von Lord Sterrer.« Elsa deutete mit den Augen. »Kennst du sie?«
»Ich habe sie hier schon ein- oder zweimal gesehen, gewöhnlich mit einem Herrn mittleren Alters - da ist er!«
Er zeigte in eine Ecke, wohin Jessie mit ihrem Tänzer ging. Der Herr, auf den Ralf wies, war dick und kahlköpfig. Seine groben Gesichtszüge fielen durch einen langen, gelben Schnurrbart besonders auf.
Jessie! Die Entdeckung war bestürzend! Sie hätte niemals geglaubt, daß dieses unscheinbare Mädchen, deren Tick Filmhelden waren, ein Doppelleben führen könnte! Elsa hatte sich Jessie in bescheidenen Verhältnissen lebend vorgestellt und nicht wie hier, mit einem Vermögen an Schmuck behängt.
Ralf begriff, daß etwas Ungewöhnliches vorgegangen sein mußte, aber er brachte Elsas veränderten Gesichtsausdruck nicht mit der ungelenken Erscheinung im Saal in Zusammenhang. Er forderte Elsa zum Tanzen auf, und als sie ablehnte, wurde er sofort von Mrs. Hallam in Anspruch genommen.
Elsa war froh, allein zurückzubleiben, denn die Ereignisse des Abends hatten sie verwirrt.
Sie rückte ihren Stuhl so, daß sie Jessie Tame ungesehen beobachten konnte, aber Jessie, die jetzt ihren Fächer lebhaft benutzte, tanzte nicht mehr.
Elsas Blick wanderte vom Saal zum Balkon. Zwischen zwei Pfeilern an einem Tisch saß ein einsamer Beobachter. Gerade in diesem Augenblick schaute er auf und erhob sich. Es war Major Amery.
Erst dachte Elsa, er würde an ihr vorübergehen, aber er blieb stehen und setzte sich dann zu ihr. Mit den Augen wies er auf den Platz, wo sich Jessie Tames Fächer aus langen Federn heftig bewegte.
»Das Skelett auf dem Ball«, sagte er trocken. Sein beißender Humor wirkte so komisch, daß Elsa lachen mußte. »Ich komme nicht oft hierher«, erklärte er, »doch wenn ich es getan und diese Dame früher gesehen hätte, wäre mir ein sehr unangenehmer Nachmittag erspart geblieben ... Es ist doch seltsam! Nie hätte ich mir diese dürre Person in einer derartigen Umgebung vorstellen können.«
»Warum denn nicht, Major Amery?« fuhr Elsa auf, bereit ihre Kollegin zu verteidigen, obgleich sie genau dasselbe Gefühl gehabt hatte, das er jetzt zum Ausdruck brachte. »Jessie arbeitet angestrengt und hat genau soviel Recht auf Zerstreuung wie ich auch. Vielleicht finden Sie es auch seltsam, daß ich hier bin?« Amery schüttelte den Kopf.
»Sie waren bei Tupperwill zum Essen, und die Hallams haben Sie hergebracht. Außerdem passen Sie in das Bild.« Er zog die Brauen hoch: »Das Gefunkel an Miss Tames Ohren ist sehr fesselnd!«
Jedesmal, wenn Jessie den Kopf bewegte, sprühte ihr Schmuck helle Funken.
Durch die Menge bahnte sich Ralf mit Mühe einen Weg.
»Das sind Dr. Hallam und seine Schwägerin«, erklärte Elsa.
»Seine Frau«, verbesserte Amery, und als er ihren erstaunten Blick sah, fuhr er fort: »Wußten Sie nicht, daß er verheiratet ist? Hat er es Ihnen nicht erzählt?«
»Nein, ich wußte es nicht«, war alles, was sie erwiderte. Ihre Gedanken waren in Aufruhr geraten. Warum hatte Ralf ihr die Wahrheit verschwiegen? Was hatte er durch die Täuschung erreichen wollen? Als ob der Unheimliche ihre Gedanken gelesen hätte, fuhr er fort:
»Es war wohl bequemer so, und Hallam gab es seine Seelenruhe. Seine Frau hat einige unangenehme Angewohnheiten. Haben Sie irgendein kleines Schmuckstück verloren?«
Elsa schüttelte verwundert den Kopf:
»Haben Sie neulich Ihre Worte wirklich ernst gemeint -daß sie an Kleptomanie leidet?«
»So drückt man es wissenschaftlich aus. Ich persönlich würde sie eher eine Einschleichdiebin nennen, die einen unwiderstehlichen Trieb nach dem Eigentum anderer Leute hat. Immerhin leiden selbst Leute der besten Gesellschaft an dieser Krankheit!«
Verheiratet! Elsa kam nicht darüber
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