029 - Der Unheimliche
Zeit.
»Dies ist das Schränkchen«, hörte sie Bickerson sagen, »wir könnten es sofort öffnen.«
»Warten Sie, bis Amery kommt!« rief der andere ungehalten. Dann verloren sich ihre Stimmen.
Elsa ging in Amerys Zimmer zurück, verschloß die Tür und eilte zum Schränkchen am Kamin. Es war verschlossen und ließ sich nicht öffnen. In ihrer Verzweiflung ergriff sie den Feuerhaken vom Kamin, und mit einer Kraft, die sie selbst überraschte, zerschmetterte sie die Täfelung. Der Lärm mußte von den Männern gehört worden sein, denn sie kamen zurück und versuchten, die Tür zu öffnen.
»Wer ist dort?« rief eine Stimme.
Elsa antwortete nicht. Nochmals schlug sie mit dem Feuerhaken gegen die Täfelung, die jetzt so weit aufgebrochen war, daß sie hineinschauen konnte. Auf dem Brett lagen vier kleine Pakete, jedes etwa drei Zoll im Quadrat, in braunes Papier gewickelt und mit Bindfaden verschnürt. Sie griff durch das Loch und nahm das erste heraus. Die Aufschrift war teils deutsch, teils englisch, aber Elsa erriet, daß das Paket Kokain enthielt. Was sollte sie tun? Sofort dachte sie an das Waschbecken.
Wieder klopfte es an die Tür, und eine ungeduldige Stimme rief: »Wer ist da drin?«
Mit zusammengebissenen Zähnen dachte Elsa nur an die Gefahr, die Amery drohte. Sie riß das Papier herunter, ließ das glitzernde weiße Pulver in das Becken rieseln, drehte beide Wasserhähne auf und entleerte die anderen Pakete. Ohne zu warten, bis alles hinuntergespült war, kehrte sie in Amerys Zimmer zurück und verbrannte das Papier im Kamin. Als sie zum Waschbecken zurückkehrte, war jede Spur des Kokains verschwunden. Nun öffnete sie ruhig die Tür. Bickerson trat ihr mit rotem Gesicht entgegen, hinter ihm stand ein älterer, großgewachsener Mann mit weißem Haar.
»Warum haben Sie nicht geöffnet, als ich gerufen habe?« fuhr Bickerson sie an.
»Weil Sie kein Recht haben, mir Befehle zu erteilen.« Er schaute auf die zerschlagene Tür des Wandschranks. »Aha! Sie arbeiten also mit Amery zusammen! Sie wissen doch, daß Sie sich strafbar gemacht haben?«
»Womit?« fragte sie mit erzwungener Ruhe. »Weil ich die Interessen meines Arbeitgebers wahre?«
»Was haben Sie gefunden?«
»Nichts!«
Bickerson sah das verbrannte Papier im Kamin. »Nichts also?« stieß er zwischen den Zähnen hervor und ging in das kleine Kämmerchen, wo er das Wasser laufen hörte -nun wurde ihm alles klar.
»Was haben Sie gefunden?« fragte er nochmals. »Heraus mit der Sprache, Miss Marlowe, Sie wollen doch sicher nicht gegen das Gesetz verstoßen!«
»Nichts!« wiederholte Elsa fest. Sie war schneeweiß und zitterte am ganzen Körper.
»Bevor Sie vorhin etwas sagten, hätten Sie sich vergewissern sollen, ob jemand zuhören kann«, meinte der ältere Beamte zu Bickerson. »Kleines Fräulein, Sie haben einem tüchtigen Kriminalinspektor eine Lehre erteilt, die er hoffentlich nicht vergessen wird!«
Bickerson nahm nun eine gründliche Durchsuchung des Büros vor. Er kniete nieder, um einen Kasten zu öffnen, als Amery ins Zimmer trat.
»Suchen Sie etwas?« fragte er höflich.
»Ich habe den Befehl, Ihr Büro zu durchsuchen«, versetzte Bickerson mit vor Wut zitternder Stimme.
»Das bezweifle ich«, betonte Amery kühl. »Seit wann hat Scotland Yard das Recht, ein Büro in der City zu durchsuchen? Die City verfügt über eine ausgezeichnete Polizei, und soviel ich weiß, lassen sich diese Herren ihre Gewalt nicht aus den Händen nehmen. Kann ich den Befehl sehen?«
Er nahm Bickerson das Papier ab und las es.
»Dies ist eine Ermächtigung, mein Haus in der Brook Street zu durchsuchen und nicht dieses Büro«, stellte er fest. »Ich bin sehr erstaunt, daß Kommissar Wille mit dieser ungesetzlichen Handlung einverstanden ist.«
Der Kommissar fuhr hoch.
»Ich glaubte, daß die nötige Erlaubnis vom Citykommissar erteilt worden ist«, rechtfertigte er sich verlegen. »Das sagten Sie doch, Bickerson!«.
»Der Citybeamte ist unten!« knurrte Bickerson. »Wenn Major Amery die gesetzliche Form gewahrt wissen will, können wir ihn herauf rufen.«
Als der Beamte eintrat, erkannte Elsa ihn als den Mann, mit dem Bickerson unten gesprochen hatte. Er schien etwas ungehalten zu sein, daß die Durchsuchung bereits begonnen hatte, denn obwohl zwischen der Polizei, die die City bewacht, und Scotland Yard Freundschaft herrschte, durfte doch, wie Major Amery behauptet hatte, kein Mann vom Yard östlich von Temple Bar oder westlich von
Weitere Kostenlose Bücher