03 Arthur und die Stadt ohne Namen
was hat das mit Wissenschaft zu tun?«, fragte ich schließlich.
»Er nennt sich Dr. Knox, also vermute ich mal, dass er Arzt ist. Darauf deuten auch die Werke in seiner kleinen Bibliothek hin. Und in der medizinischen Forschung wird nun mal obduziert.«
Ich schluckte. Wir schwiegen einen Moment. Aus dem Raum vor uns war das Geräusch von schlurfenden Füßen zu hören. An der Wand gegenüber sahen wir, wie sich zahlreiche Schatten langsam auf einen Punkt zubewegten.
Larissa fuhrwerkte in ihrer Umhängetasche herum und zog einen kleinen Spiegel heraus. Vorsichtig streckte sie ihn durch die Gitterstäbe. Nach einigem Hin- und Herdrehen erkannten wir, dass sich die ganze Gesellschaft durch die Türöffnung entfernte, die in den Raum mit den Büchern und von dort in den Hörsaal führte.
Dann erklang die Stimme von Knox. Es hörte sich an, als ob er etwas erklärte. Leider war es zu weit weg und wir konnten die Worte nicht verstehen.
»Jetzt sind alle abgelenkt«, sagte ich. »Wir könnten vielleicht abhauen.«
Larissa schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich. Wir müssen warten, bis sie alle schlafen.«
»Falls sie das jemals tun.« Ich hatte eine unangenehme Ahnung, dass Knox und seine Gefährten nicht mit unseren Maßstäben zu messen waren. Das würde natürlich bedeuten, dass die Chancen auf eine erfolgreiche Flucht ziemlich schlecht standen.
Etwa eine halbe Stunde dozierte Knox vor sich hin. Dann brandete Applaus auf. Wenig später schlurften die Schatten an der Wand wieder zurück zu ihren Plätzen. Nach ihnen tauchten die Assistenten mit dem Rolltisch in unserem Blickfeld auf. Das Bündel auf dem Tisch sah deutlich unordentlicher aus als vorher. Das Tuch, das beim Hereinrollen einigermaßen sauber gewesen war, wies mehrere große dunkle Flecken auf.
Nur wenige Schritte hinter dem Tisch folgte Knox selbst. Seine Schürze war ebenfalls über und über dunkel befleckt. Das konnte nur Blut sein! Burke und Hare trabten mit dem Arztkoffer hinter ihm her. Kurz darauf kehrten alle zurück. Knox hatte die Schürze abgelegt und sah wieder völlig normal aus – sofern man unter diesen Umständen überhaupt von Normalität sprechen konnte.
Was ging hier vor? War hier wirklich soeben ein Leichnam zerschnitten worden? Mir fiel die Geschichte von den Grabräubern ein, die den Chirurgen die Körper der frisch Verstorbenen von den Friedhöfen verkauften, und ein kalter Schauer lief mir den Rücken herunter.
»Wenn er gerade eine Leiche seziert hat – wo hatte er die dann her?«, fragte ich mit zitternder Stimme.
»Keine Ahnung. Und ich möchte es auch gar nicht wissen.« Larissa schauderte es ebenfalls. »Ich komme mir vor wie bei ›Hänsel und Gretel‹. Draußen ist die böse Hexe, und wir sitzen hier im Kerker und werden gemästet.«
»Du glaubst doch nicht etwa, er lockt Leute hier herunter, um sie dann ...« Ich sprach den Satz nicht zu Ende aus. Die Vorstellung war einfach zu schrecklich. Sollte ich vorher noch irgendeinen Zweifel gehegt haben, so war mir jetzt klar, dass wir so schnell wie möglich hier verschwinden mussten.
»Was glaubst du, wie spät es ist?«, fragte Larissa.
Ich überlegte. »Lass mal sehen. Um elf Uhr hat die Tour begonnen. Als wir auf Burke gestoßen sind, war es ungefähr Viertel vor zwölf. Dann der Weg hierhin, der Tee – das dauerte vielleicht auch noch mal eine Stunde. Danach der Weg zu der Gasse und zurück und die Suppe. Ich schätze, wir haben jetzt etwa drei Uhr nachmittags.«
»Die Frage ist, wann die hier unten schlafen gehen. Ich kann nur hoffen, ihr Tagesablauf hat sich so verschoben, dass es schon bald ist.«
Es dauerte noch ein paar Stunden, bis die Situation günstig schien. Immer wieder hatten wir Schatten an der Wand entlanghuschen sehen oder eine Stimme gehört – ein Zeichen dafür, dass man noch auf den Beinen war. Schließlich aber bewegte sich nichts mehr. Das Licht im Gewölbe nahm ebenfalls ab.
Wir lauschten ein paar Minuten angespannt, konnten aber nichts hören. Ich nickte Larissa zu. Sie hatte ihr Etui mit den Werkzeugen zum Schlossöffnen, das sie immer bei sich trug, schon bereitgelegt. Ich hielt die Laterne mit der inzwischen fast völlig heruntergebrannten Kerze so nahe wie möglich an das Gitter.
Sie nahm einen der an der Spitze merkwürdig geformten Metallstäbe, steckte ihre Hand durch das Gitter und führte ihn in das Vorhängeschloss ein. Mit der anderen Hand hielt sie das Schloss fest. Vorsichtig drehte sie den Stab ein wenig hin und her.
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