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03 - Auf Ehre und Gewissen

03 - Auf Ehre und Gewissen

Titel: 03 - Auf Ehre und Gewissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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gewesen war, doch die Erinnerung an das letzte Gespräch mit dem Arzt hatte sie nie endgültig verdrängen können. Sie konnte nicht entfliehen.
    »Ein Abbruch schließt die Möglichkeit zukünftiger gesunder Schwangerschaften nicht unbedingt aus, Deborah. Aber es kommt vor. Sie sagen, das war vor mehr als sechs Jahren. Vielleicht gab es Komplikationen. Verwachsungen eventuell oder etwas Ähnliches. Das können wir mit Sicherheit erst nach gründlichen Untersuchungen sagen. Wenn Sie und Ihr Mann also wirklich den Wunsch haben ...«
    »Nein!«
    Das Gesicht des Arztes zeigte augenblicklich Verständnis. »Simon weiß nichts davon?«
    »Ich war gerade erst achtzehn. Ich war in Amerika. Er soll nicht - er darf nicht ...«
    Selbst jetzt schreckte sie vor dem Gedanken daran zurück. In Panik tastete sie nach einem Kirchenstuhl, riß das Türchen auf, stolperte hinein und sank auf die Bank.
    Hier wartet kein Wunder auf mich, dachte sie bitter, kein Wasser von Lourdes, in dem ich mich waschen kann, kein Handauflegen, keine Absolution. Sie verließ die Kirche.
    Die Sonne stand tief. Deborah holte ihre Sachen und ging auf dem Betonweg zurück. Am inneren Tor drehte sie sich um und warf einen letzten Blick auf die Kirche, als könne diese ihr doch noch den inneren Frieden geben, den sie suchte. Die untergehende Sonne sandte Strahlen ersterbenden Lichts zum Himmel hinauf, die hinter den Bäumen um die Kirche und ihren gezinnten normannischen Glockenturm wie eine Aureole leuchteten.
    Normalerweise hätte sie ohne Überlegung fotografiert, um den langsamen Wechsel des Farbenspiels am Himmel festzuhalten. In diesem Augenblick jedoch konnte sie nur zusehen, wie die Schönheit des Lichts fahl wurde und verblich, während sie daran dachte, daß sie die Heimkehr und die Rückkehr zu Simons argloser, bedingungsloser Liebe nicht länger vermeiden konnte.
    Auf dem Weg, dicht vor ihren Füßen, zankten sich zwei Eichhörnchen mit zornigem Geplapper. Sie stritten sich um einen Happen, jedes entschlossen, in diesem Kampf Sieger zu bleiben. Sie flitzten um einen verschnörkelten Marmorstein am Rand des Friedhofs und sprangen auf die knapp brusthohe Flintsteinmauer, die den Kirchengrund vom Feld eines Bauern abgrenzte und von mehreren ausladenden Nadelbäumen überschattet war. Hin und her huschten sie auf der Mauer, sich abwechselnd attackierend. Pfötchen und buschige Schwänze flogen im erbitterten Kampf, und das heißumstrittene Häppchen fiel zu Boden.
    Deborah nahm die Gelegenheit wahr. »Schluß jetzt«, sagte sie. »Nicht streiten. Hört auf ihr beiden!«
    Sie näherte sich den beiden Tieren, und diese flohen, als sie sie kommen sahen, auf die andere Seite der Mauer, in die Bäume.
    »Na, das ist doch besser als streiten, oder?« sagte sie und blickte zu den Zweigen hinauf, die über den Friedhof hingen. »Benehmt euch jetzt! Streiten gehört sich nicht. Und das ist hier wirklich nicht der Ort dafür.«
    Eines der Eichhörnchen hatte sich in einer Gabelung zwischen Ast und Baumstamm niedergelassen. Das andere war verschwunden. Das Tier oben im Baum beobachtete sie von seinem sicheren Plätzchen aus mit wachem Blick. Dann begann es, offenbar beruhigt, sich zu putzen, wobei es sich die Pfötchen träge über die Augen zog, als beabsichtige es, ein Nickerchen zu machen.
    »Ich an deiner Stelle wär mir meiner Sache nicht so sicher«, warnte Deborah. »Der andere kleine Frechdachs wartet wahrscheinlich nur auf so eine Gelegenheit, um dich wieder zu überfallen. Was meinst du, wo er sich versteckt hat, hm?«
    Sie suchte mit den Augen erfolglos in den Zweigen und senkte schließlich den Blick.
    »Er wird doch nicht so schlau sein und -« Die Stimme versagte ihr. Der Mund war ihr augenblicklich trocken. Alle Worte flohen sie. Alle Gedanken lösten sich auf.
    Unter dem Baum lag die nackte Leiche eines Kindes.

3
    Entsetzen lähmte sie und ließ sie wie angewurzelt verharren. Details gewannen eine ungeheure Intensität, von der Gewalt des Schocks in ihr Hirn eingehämmert.
    Sie spürte, wie sich ihr Mund öffnete, sie fühlte den Luftschwall, der ihre Lunge mit unnatürlicher Kraft aufblähte. Nur ein Schrei des Entsetzens hätte die Luft rasch genug wieder herauspressen können, um zu verhindern, daß ihre Lunge barst.
    Aber sie konnte nicht schreien, und selbst wenn sie es getan hätte, es war ja niemand in der Nähe, der sie hätte hören können. Sie brachte nur ein Flüstern zustande.
    »O Gott.« Und dann, sinnlos: »Simon.« Danach

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