03 - Auf Ehre und Gewissen
starrte sie, obwohl sie es nicht wollte, mit aufgerissenen Augen hinunter, die Hände zu Fäusten geballt und alle Muskeln gespannt, um jederzeit wegzulaufen, wenn sie mußte, sobald sie konnte.
Das Kind lag halb auf dem Bauch gleich hinter der Mauer im blütenlosen Gerank irgendeines Kriechgewächses. Nach Länge und Schnitt des Haars zu urteilen, mußte es ein Junge sein.
Selbst wenn Deborah so naiv oder so hysterisch gewesen wäre, sich einreden zu wollen, er schliefe nur, wäre eine Erklärung dafür, warum er splitternackt in der Spätnachmittagsluft schlief, die von Minute zu Minute kühler wurde, unmöglich gewesen. Und warum unter einem Baum inmitten einer Fichtengruppe, wo die Temperatur noch niedriger war als dort, wo wenigstens die letzten Sonnenstrahlen noch etwas wärmten? Und warum hätte er in dieser unnatürlichen Lage schlafen sollen, fast die gesamte Last seines Körpers auf der rechten Hüfte, die Beine weit gespreizt, den rechten Arm so ungeschickt verdreht, daß er wie abgeknickt schien, den Kopf nach links gedreht, so daß das Gesicht zu drei Vierteln in den Boden gedrückt war? Und doch war seine Haut gerötet - ja, rot beinahe -, und das bedeutete doch Wärme, Leben, pulsierendes Blut.
Die Eichhörnchen nahmen ihr Gezänk wieder auf, flitzten den Baum hinunter, in dem sie Schutz gesucht hatten, und setzten in drolligen Sprüngen über die reglose Gestalt unweit des Baumstamms. Die winzige Kralle des ersten Eichhörnchens verfing sich im Fleisch des kindlichen Oberschenkels, blieb hängen, und das Tier war gefangen. Wütendes Geschimpfe war zu vernehmen, während das Tier verzweifelt versuchte, sich loszureißen. Die Haut des Kindes brach auf. Das Eichhörnchen verschwand.
Deborah sah, daß kein Blut aus der Wunde sickerte, die die Kralle zurückgelassen hatte. Einen Moment lang fand sie es merkwürdig, dann fiel ihr ein, daß Tote nicht bluten.
Jetzt endlich begann sie zu schreien und wandte sich ab. Aber jedes Detail stand ihr so lebhaft vor Augen, daß ihr war, als starre sie noch immer auf das Kind. Ein Blatt im nußbraunen Haar; eine sichelförmige Narbe, die sich über die linke Kniescheibe zog; ein ovales Muttermal am Rücken; und auf der ganzen linken Seite des Körpers, soweit es sichtbar war, merkwürdige Verfärbungen, als wäre das Kind irgendwann vor seinem Tod auf diese Körperseite gewaltsam niedergeworfen worden.
Selbst bei dem kurzen Blick, den Deborah aus einer Entfernung von zwei Metern auf ihn geworfen hatte, hatte sie die verräterischen Abschürfungen an Handgelenken und Fesseln sehen können: grellweiße Flecken toter Haut auf rotem, entzündeten Untergrund. Sie wußte, was das hieß. Sie wußte auch, was die gleichförmigen, runden Brandmale auf dem zarten Fleisch seines Innenarms bedeuteten.
»O Gott, o Gott!« schrie sie laut.
Ihre Worte gaben ihr plötzliche, unerwartete Kraft. Sie rannte zum Parkplatz.
Simon Allcourt-St. James hielt seinen alten MG neben dem Polizeikordon an, der an der Einfahrt zum Parkplatz von St. Giles gezogen worden war. Flüchtig fiel das Licht der Scheinwerfer auf das weiße Gesicht eines jungen, schlaksigen Polizeibeamten, der dort Wache hielt. Ganz überflüssig, wie es schien, denn wenn auch die Kirche nicht völlig isoliert stand, so waren die umliegenden Häuser doch in einigem Abstand, und es hatte sich keine neugierige Menge auf der Straße gesammelt.
Doch es war Sonntag. In einer Stunde fing die Abendandacht an. Da mußte jemand da sein, die frommen Kirchgänger wieder nach Hause zu schicken.
An dem schmalen Sträßchen, das auf den Parkplatz führte, sah Simon einen Halbkreis von starken Lichtern. Die Polizei hatte dort ihr Quartier aufgeschlagen. Grellblaue Blitze durchzuckten in regelmäßig pulsendem Rhythmus das weiße Licht der Scheinwerfer. Jemand hatte vergessen, das Blaulicht auf einem der Polizeifahrzeuge auszuschalten.
Simon stellte den Motor ab. Schwerfällig schob er sich aus dem Wagen, und sein geschientes Bein landete so unglücklich auf dem Boden, daß er schwankte, als er sich aufrichtete, und beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Der junge Constable beobachtete ihn mit einer Miene, die verriet, daß er nicht wußte, ob er dem Fremden helfen oder ihn vertreiben sollte. Er entschied sich für das letztere. Es lag mehr in seinem Wirkungskreis.
»Hier können Sie nicht halten, Sir«, rief er barsch.
»Hier findet eine polizeiliche Untersuchung statt.«
»Ich weiß, Constable. Ich möchte zu meiner
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