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03 - Auf Ehre und Gewissen

03 - Auf Ehre und Gewissen

Titel: 03 - Auf Ehre und Gewissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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beflecktem Flaum bedeckt, der keinen Schutz geboten hatte. Der Kopf fehlte. Beine und kleine Klauen waren abgerissen worden. Das kleine Geschöpf war vielleicht einmal eine Holztaube gewesen, jetzt war es nur noch eine beschädigte Hülle, in der einmal, allzu kurz, Leben gewesen war.
    Wie flüchtig es war. Wie rasch es ausgelöscht werden konnte.
    Deborah spürte, wie der Schmerz in ihr aufwallte, und wußte, daß ihr der Wille fehlte, ihn zu besiegen. In den vergangenen vier Wochen hatte sie ihn mit Arbeit bekämpft. Und ihr wandte sie sich auch jetzt wieder zu, ging fort von dem Vogel, in ihren kalten Händen ihr Arbeitsgerät.
    Schauplätze der Literatur, hieß ihr Auftrag. In den Wochen seit Ende Februar hatte Deborah das Yorkshire der Brontës erforscht und sich in den Bann von Ponden Hall und High Withers ziehen lassen; sie hatte Tintern Abbey im Mondschein festgehalten; sie hatte das Cobb und insbesondere Granny's Teeth fotografiert, von wo Louisa Musgrove in den Tod gestürzt war; sie hatte den Turnierplatz in Ashby de la Zouch abgeschritten, hatte das Kommen und Gehen in der Trinkhalle von Bath beobachtet, die Straßen von Dorchester durchstreift, um den langsamen Verfall Michael Henchards zu erspüren, und sie hatte sich vom Zauber der Hill Top Farm einfangen lassen.
    In jedem Fall hatten der Schauplatz selbst und ihre Beschäftigung mit der Literatur, die er ausgelöst hatte, sie beflügelt und inspiriert. Aber als sie sich jetzt an diesem letzten Aufnahmeort umsah und die beiden Bauten entdeckte, die, da sie so nahe bei der Kirche standen, die Grabmäler sein mußten, die sie fotografieren wollte, war sie enttäuscht. Wie sollte sie etwas so Prosaisches, Banales je in eine poetische Form bringen?
    Deborah runzelte die Stirn. »Die reinste Katastrophe«, murmelte sie. Aus ihrem Kamerakoffer holte sie das Manuskript des Buches, das ihre Fotografien illustrieren sollten. Sie legte mehrere Seiten davon auf die Überdachung des Grabes, um nicht nur Elegy Written in a Country Churchyard zu lesen, sondern auch die Interpretation, die es begleitete. Nachdenklich, mit wachsendem Verständnis, ruhte ihr Blick schließlich auf der elften Stanze des Gedichts. Sie sann lange darüber nach.

Ruft einer Urne Pracht, des Künstlers Meisterstück,
    Ein seelenvolles Bild! den Geist im Flug zurück?
    Kann zu des Grabes Nacht der Ehre Stimme dringen?
    Läßt sich des Todes Ohr durch Schmeicheleien zwingen?

    Als sie wieder aufblickte, sah sie den Friedhof so, wie Gray gewollt hatte, daß sie ihn sehen sollte, und sie wußte, daß ihre Aufnahmen das einfache Leben wiedergeben mußten, das der Dichter mit seinen Worten hatte feiern wollen. Sie packte die Papiere wieder ein und stellte ihr Stativ auf.
    Nichts Schwelgerisches würde es werden, nichts Raffiniertes, schlichte fotografische Aufnahmen, die von Hell und Dunkel Gebrauch machten, um die Reinheit und die Schönheit einer ländlichen Abenddämmerung darzustellen. Sie bemühte sich, die Bescheidenheit des Ortes einzufangen, wo, um mit Gray zu sprechen, »von diesem armen Dorf der Väter rohe Schaar« schlief, und rundete ihre Impressionen mit einer Aufnahme der Eibe ab, unter der der Dichter angeblich seine Verse geschrieben hatte.
    Als das getan war, ließ sie ihre Sachen liegen und ging ein paar Schritte, um nach Osten zu blicken, Richtung London. Es gab keinen Aufschub mehr. Es gab keinen Vorwand mehr, ihrem Zuhause fernzubleiben. Aber sie mußte sich darauf einstellen, ehe sie ihrem Mann gegenübertreten konnte. Darum ging sie in die Kirche.
    Gleich als sie eintrat, fiel ihr Blick auf den Gegenstand, der in der Mitte des Kirchenschiffs stand, ein achteckiges Taufbecken aus Marmor, das unter der hohen Wölbung der Holzdecke klein, beinahe zierlich wirkte. Jede Seite des Beckens war mit feingemeißelten Reliefs verziert, und hinter ihm standen zwei hohe Zinnleuchter mit frischen Kerzen.
    Deborah ging nach vorn und berührte vorsichtig das glatte Eichenholz, das das Becken bedeckte. Nur einen Moment lang gab sie der Vorstellung nach, sie halte ein Kind in ihren Armen und spüre den zarten Duft seines Köpfchens an ihrer Brust. Sie hörte sein erschrecktes Aufweinen, als das Wasser auf seine reine, ungeschützte Stirn tropfte. Sie spürte, wie sich das Händchen um ihren Finger schloß. Sie erlaubte sich zu vergessen, daß sie - zum vierten Mal innerhalb von achtzehn Monaten - eine Fehlgeburt gehabt hatte. Sie erlaubte sich zu vergessen, daß sie je im Krankenhaus

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