03 - Auf Ehre und Gewissen
er ein Ferngespräch nach Nordirland angemeldet, wo Clive Pritchards Vater - Colonel bei der Armee - seit achtzehn Monaten stationiert war, und hatte Pritchard kurz und bündig mitgeteilt, daß sein Sohn auf Entscheidung des Schulleiters ab sofort vom Unterricht ausgeschlossen war. Der Verwaltungsrat würde entsprechend informiert werden. In Anbetracht der Umstände würde es keine Möglichkeit geben, gegen die Entscheidung Berufung einzulegen. Wenn der Colonel so gut sein wolle, ein Familienmitglied nach Bredgar Chambers zu entsenden ...
Danach schwieg Lockwood längere Zeit. In der Stille konnten Lynley und Barbara die scharfe Stimme am anderen Ende der Leitung deutlich hören. Lockwood konterte mit gleicher Schärfe, als er die Proteste des Colonels mit den Worten unterbrach: »Ein Schüler ist ermordet worden. Clives Probleme gehen im Augenblick weit über einen bloßen Schulausschluß hinaus, das können Sie mir glauben.«
Nachdem er das erledigt hatte, wies er Lynley und Barbara den Weg zu Clives Zimmer und machte sich selbst auf die Suche nach dem Jungen.
Clive sah, wie Lynley die Fotografie betrachtete, und grinste. »Ich und meine Großmutter«, sagte er. »Sie fand den Irokesenschnitt allerdings nicht so doll.« Er setzte sich auf die Bettkante, zog sich den Pullover über den Kopf und krempelte die Hemdsärmel auf. Sein linker Innenarm war durch eine Tätowierung entstellt, ein ziemlich mißratener Totenkopf mit zwei gekreuzten Knochen darüber.
»Echt gut, was?« fragte Clive, als er sah, daß Lynley die Tätowierung bemerkt hatte. »Hier in der Schule muß ich sie immer verstecken. Aber ich sag Ihnen, die Mädchen sind ganz heiß drauf.«
»Rollen Sie den Ärmel hinunter, Pritchard«, befahl Lockwood scharf. »Sofort.«
Lockwood machte ein Gesicht, als wäre ihm ein fauler Geruch in die Nase gestiegen. Er ging zum Fenster und öffnete es.
»So ist's recht, Locky. Tief atmen«, spottete Clive Pritchard, als Lockwood vor dem offenen Fenster stehenblieb, und ließ seine Hemdsärmel, wie sie waren.
»Havers«, sagte Lynley, ohne den Austausch zwischen dem Jungen und dem Schulleiter zu beachten.
In der Manie der altgeübten Polizeibeamtin machte Barbara den Jungen routiniert auf seine Rechte aufmerksam. Er sei nicht verpflichtet, ihnen irgend etwas mitzuteilen, wenn er es nicht wolle, doch alles, was er aussage, könne zu Protokoll genommen und als Beweismaterial gegen ihn verwendet werden.
Clive heuchelte Unverständnis und Verwunderung, aber seine Augen verrieten ihn; er verstand die Bedeutung dieser wenigen amtlichen Worte genau.
»Was soll denn das sein?« fragte er. »Erst kommt Mr. Lockwood höchstpersönlich und holt mich aus dem Musikunterricht - mitten in meinem Sax-Solo übrigens; dann find ich hier die Bullen in meiner Bude vor; und jetzt werd ich auch noch höchst amtlich auf meine Bürgerrechte hingewiesen.« Er streckte ein Bein aus, schob den Fuß unter die Querleiste des Schreibtischstuhls und zog diesen heraus. »Legen Sie erstmal Ihr Gewicht ab, Inspector. Oder vielleicht sollte ich das besser Ihrem Sergeant sagen.«
»Das ist doch -« Lockwood schien es angesichts der Unverschämtheit des Jungen die Sprache verschlagen zu haben.
Clive kippte den Kopf ein wenig zur Seite und sah ihn herausfordernd an, aber seine Fragen richtete er in bewußt treuherzigem Ton an Lynley. »Warum ist er überhaupt hier? Was hat das mit Morant zu tun?«
»Gerichtliche Vorschrift«, antwortete Lynley.
»Vorschrift worüber?«
»Über die Vernehmung von Verdächtigen.«
Clives Lächeln treuherziger Unschuld erlosch. »Sie sind doch nicht - Okay, Lockwood hat mir die Kassette vorgespielt. Ich hab sie gehört. Und jetzt bin ich rausgeflogen und hab einen Riesenkrach von meinem Alten zu erwarten. Aber das ist alles. Nichts als 'n bißchen Hopsasa mit Harry Morant. War sowieso 'n rotzfrecher Zwerg. Der brauchte mal 'ne Tracht. Aber das war auch alles.«
Barbara stand über den Schreibtisch gebeugt und schrieb. Als Clive schwieg, nahm sie sich den Stuhl und setzte sich. Lockwood, der noch immer am Fenster stand, verschränkte die Arme.
»Wie oft gehen Sie auf die Krankenstation, Clive?« fragte Lynley.
»Auf die Krankenstation?« Er schien verblüfft.
»Wieso?« fragte er, vielleicht um Zeit zu gewinnen.
»Nicht öfter als die anderen.«
Die Antwort war unbefriedigend. Lynley bohrte weiter.
»Aber mit den Befreiungen kennen Sie sich doch aus?« »Wie meinen Sie das?«
»Sie wissen, wo sie
Weitere Kostenlose Bücher