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03 - Auf Ehre und Gewissen

03 - Auf Ehre und Gewissen

Titel: 03 - Auf Ehre und Gewissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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zog er eine der beiden Schubladen im Schreibtisch auf. Von ganz hinten, wo sie unter einem Stapel von Papieren und Heften verdeckt war, zog er eine andere Kassette heraus und reichte sie Lynley.
    Er sprach noch immer kein Wort, aber das war auch nicht nötig. Sein Gesicht spiegelte den inneren Kampf sehr deutlich.
    »Es geht hier nicht um eine heimliche Zigarette im Glockenturm, Chas«, sagte er. »Nicht um dumme Streiche oder Abschreiben bei einer Prüfung. Hier geht es um Folter. Und um Mord.«
    Chas griff sich mit einer Hand an die Stirn. Er senkte den Kopf. Sein Gesicht war schmutziggrau. Ein Zittern durchlief seinen Körper, und er preßte die Beine zusammen, als suche er Wärme und Schutz.
    »Clive Pritchard«, sagte er, und Lynley sah, was die Worte ihn kosteten.
    Ganz ohne das übliche Papierrascheln klappte Barbara ihren Block auf und zog ihren Bleistift aus der Jackentasche. Lynley blieb beim Bücherregal. Über Chas hinweg konnte er vom Fenster umrahmt den Morgenhimmel sehen, blendend weiße Kumuluswolken vor einer tiefblauen Wand.
    »Erzählen Sie«, sagte er.
    »Es war an einem Samstag abend vor ungefähr drei Wochen. Matt Whateley brachte mir eine Kassette und spielte sie mir hier im Zimmer vor.«
    »Warum gab er sie nicht Mr. Lockwood?«
    »Aus dem gleichen Grund, aus dem ich sie ihm auch nicht übergeben habe. Er wollte nicht, daß Clive ausgeschlossen wird. Er wollte nur, daß er Harry Morant und die anderen in Ruhe läßt. So war Matt. Ein feiner Kerl.«
    »Clive wußte, daß Sie die Kassette hatten?«
    »Ja, von Anfang an. Ich spielte sie ihm vor. Matthew wußte, daß ich das vorhatte. Es war das einzige Mittel, Clive dazu zu bringen, Harry Morant in Ruhe zu lassen. Ich nahm ihn mit hierher, auf mein Zimmer, spielte ihm die Kassette vor und sagte, wenn so was noch einmal vorkäme, würde ich die Kassette Lockwood übergeben. Clive wollte sie natürlich haben. Er hat's versucht, sie an sich zu bringen. Aber Matt hatte mir erzählt, daß er eine Kopie gemacht hatte, und das sagte ich Clive. Daraufhin sah er ein, daß es sinnlos gewesen wäre, mir diese Kassette hier zu stehlen. Es sei denn, er hätte auch an die Kopie herankommen können.«
    »Sie haben ihm gesagt, daß Matt die Aufnahme gemacht hatte?«
    Chas schüttelte den Kopf. Die Augen hinter den Brillengläsern waren trostlos. Auf seiner Oberlippe glänzte ein feiner Schweißfilm. »Nein, das habe ich ihm nicht gesagt. Aber Clive brauchte nicht lang, um selbst daraufzukommen. Matt war hier auf der Schule Harrys bester Freund. Sie waren immer zusammen im Modelleisenbahn-Club. Sie steckten fast immer zusammen. Sie waren beide - ein bißchen kindlich für ihr Alter.«
    »Ich kann verstehen, daß Sie die Kassette behielten, nachdem Matthew sie Ihnen gegeben hatte«, sagte Lynley, »insbesondere, wenn durch sie den Mißhandlungen wirklich ein Ende gemacht wurde. Ich kann es nicht gutheißen, aber ich kann es immerhin verstehen. Aber Ihr Verhalten in den letzten drei Tagen kann ich nicht verstehen. Sie müssen doch gewußt haben -«
    »Mit Sicherheit wußte ich gar nichts!« protestierte Chas. »Und ich weiß auch jetzt noch nichts. Ich wußte, daß Clive Harry Morant malträtierte. Ich wußte, daß Matt das Band aufgenommen hatte. Ich wußte, daß eine Kopie existierte. Ich wußte, daß Clive sie unbedingt haben wollte. Aber das ist alles, was ich wußte.«
    »Und was dachten Sie sich, als Matthew vermißt wurde?«
    »Das, was alle anderen auch dachten. Daß er abgehauen wäre. Er hat sich hier nicht sehr wohl gefühlt. Er hatte kaum Freunde.«
    »Und als man die Leiche gefunden hatte? Was dachten Sie sich da?«
    »Ich wußte es nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß es immer noch nicht.« Der Junge schlug die Hände vor sein Gesicht.
    »Sie wollten es nicht wissen«, sagte Lynley. »Sie wollten keine Fragen stellen. Sie zogen es vor, die Augen vor dem Offenkundigen zu verschließen. Ist es nicht so?« Er schob die Kassette in seine Tasche und blickte auf die gerahmten Zitate an der Wand. Das Zimmer erschien ihm plötzlich erstickend. Der Geruch nach Schweiß und Angst war durchdringend. »Sie haben Marlowe vergessen«, sagte er zu dem Jungen. »›Die schlimmste Sünde ist die Unwissenheit.‹ Vielleicht sollten Sie das Ihrer Sammlung hinzufügen.«
    Als die beiden Polizeibeamten gegangen waren, legte Chas den Kopf auf die Arme und weinte. Rückhaltlos überließ er sich dem Jammer über seine tiefe Not, die ihren Keim in seinem Verrat an seinem

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