03 - Auf Ehre und Gewissen
wartete nicht auf seine Antwort. »Ich will es mal ganz nüchtern ausdrücken. Ich hatte John schon eine ganze Weile im Auge. Ich war - was ist das übelste Wort dafür? - ich war hinter ihm her. Ich hatte bei Männern nie viel Erfolg. Sie sahen immer nur die Schwester in mir. Freundlicher Händedruck und ab mit dir, so in der Art. Aber mit John war es anders. Wenigstens glaubte ich, es könnte anders sein.«
»So hat er es auch geschildert.«
»Ja? Dann wissen Sie ja die Wahrheit. Das, was sich im vergangenen Jahr zwischen uns entwickelt hat, war etwas Besonderes. Es war Freundschaft, aber es war mehr. Können Sie sich das zwischen einer Frau und einem Mann vorstellen? Wissen Sie, was ich meine?«
»Ja.«
Sie sah ihn neugierig an, wie aufmerksam gemacht durch die Art, wie er das eine Wort ausgesprochen hatte.
»Ja, vielleicht wissen Sie es wirklich. Aber ich konnte mich mit einer rein geistigen Freundschaft, mit einer Art Seelenverwandtschaft, nicht begnügen. Ich bin schließlich eine Frau aus Fleisch und Blut. Ich begehrte John.
Und am letzten Freitag abend hatte ich es endlich geschafft. Wir schliefen miteinander. Ich will gern zugeben, daß es anfangs ein bißchen schwierig war. Ich dachte zuerst, es läge an mir, an meiner Unerfahrenheit. Ich hatte seit mehreren Jahren nicht mehr ...« Sie rieb an einem Fleck am Ärmel ihrer Robe. »Aber es war trotzdem gut. Es war das, was ich mir gewünscht hatte, Nähe. Hinterher waren wir dann in seinem Arbeitszimmer. Ich hatte seinen Morgenrock an, und wir redeten und lachten darüber, wie komisch ich in dem Ding aussah. Ich stand am Bücherregal. Ich fühlte mich das erste Mal so richtig ungezwungen, ich hatte das Gefühl, ich könnte endlich ganz ich selbst sein. Ich weiß noch, daß ich sagte, ich wäre froh, daß er seinen Intellekt im Arbeitszimmer gelassen hätte, als wir ins Schlafzimmer gingen - irgendwas in dieser Art, Sie wissen schon, einfach weil mir so leicht zumute war. Ich zog eines der Bücher aus dem Regal. Er sagte: ›Das nicht, Em‹, aber es war schon zu spät. Ich hatte es schon aufgeschlagen. Er hatte es ausgehöhlt - genau wie ein Schuljunge, der was Verbotenes tut -, und drinnen waren die Fotos. Die dort.«
Sie wies auf die Bilder.
»Und Sie haben sie mitgenommen?«
»Zuerst nicht. Ich bin wahrscheinlich total naiv. Ich dachte, jemand hätte die Fotos in Johns Arbeitszimmer geschmuggelt, um ihm zu schaden, um ihn an der Schule unmöglich zu machen. Ich weiß noch, daß ich sagte: ›Mein Gott, John, wer kann die dir ins Zimmer gelegt haben?‹ Aber dann erkannte ich, daß sie ihm gehörten. Ich sah es an seinem Gesichtsausdruck. Er konnte es nicht vor mir verbergen, und die Bilder selbst waren -man sieht ja, daß sie überall voller Fingerabdrücke sind, als hätte jemand sie sich gründlich angesehen - lange und gründlich ... Als hätte jemand« - sie brach ab, senkte den Blick, räusperte sich - »als hätte jemand sie gestreichelt, sich liebevoll mit ihnen befaßt.«
»Und wie rechtfertigte John den Besitz der Fotos?«
»Er sagte, sie seien Quellenmaterial für einen Roman, den er schreiben wollte. Es sollte die Geschichte über ein Kind werden, das einem Pornographieproduzenten in die Hände fällt, und dessen ganzes Leben dadurch zerstört wird. Fiktion auf der Grundlage von Tatsachen, sagte er.«
»Sie glaubten ihm nicht?«
»Doch, zuerst schon. Ich wußte, daß er schon lange vorhat, einen Roman zu schreiben. Aber selbst wenn ich das nicht gewußt hätte, hätte ich ihm geglaubt, weil ich ihm glauben wollte. Ich mußte ihm glauben. Etwas anderes wollte ich nicht sehen, schon gar nicht das, was die Bilder über ihn aussagten.«
»Über seine Sexualität?«
»Das und -« Ihr Gesicht verriet ihre Qual. »Er fotografiert - Landschaften, Menschen. Aber er hängt die Fotos nicht auf, weil er sie nicht gut genug findet. Aber sie sind gut. Wirklich. Es ist ein Hobby von ihm. Nur ein Hobby. Das sagte ich mir seit Freitag abend. Ich kann immer noch nicht daran denken - ich will nicht glauben ...« Hastig tupfte sie sich die Augen mit dem Ärmel ihrer Robe.
Lynley erkannte, welchen Bogen sie schlug. »Sie wollen nicht glauben, daß er selbst diese Aufnahmen gemacht hat«, sagte er und war sich dabei bewußt, daß er selbst das auch nicht glauben wollte. »Ist es das, was Sie denken?«
»Ich kann nicht. Es ist auch so schlimm genug. Ich kann das nicht glauben.«
»Denn wenn Sie es glauben, dann wäre logischerweise der nächste
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