03 - Auf Ehre und Gewissen
gegeben«, sagte er. »Sie hat sie dir gegeben ...«
Lynley war froh, ihm wenigstens diesen Schmerz ersparen zu können. »Nein. Ein Schüler beobachtete sie, wie sie die Fotos am letzten Samstag nachts verbrennen wollte. Er hat sie mir gegeben. Sie versuchte zu leugnen, daß sie dir gehören.«
»Sie kann nicht lügen, nicht wahr? Nein, das kann sie nicht.«
»Nein. Und es gereicht ihr zur Ehre.«
Corntel sah nicht von den Bildern auf.
»Kannst du mir erklären, was die Fotos zu bedeuten haben, John? Du wirst doch wissen, wie es wirken muß, wenn du so etwas in deinem Besitz hast.«
»Natürlich. Ich als Lehrer, der täglich mit Kindern zu tun hat! Und dann noch unter den gegebenen Umständen.« Er hob den Kopf nicht, sondern sah langsam die Bilder durch, während er sprach. »Ich wollte immer schreiben, Tommy. Ist das nicht der Traum jedes Englischlehrers? Sagen wir nicht alle, wir könnten ein Buch schreiben, wenn wir nur die Zeit hätten oder die Disziplin oder die Energie? Und das hier - diese Bilder - war der erste Schritt.«
Er sprach leise und mit einer Innigkeit wie nach dem Liebesakt und sah dabei weiter die Bilder durch.
»Ich habe absichtlich ein sensationelles Thema gewählt. Weil so etwas sich leichter verkaufen läßt. Irgendwie muß man ja anfangen, und so furchtbar unredlich schien es mir nicht, auf diese Weise den Anfang zu machen. Mir ist klar, daß bei einem solchen Projekt von künstlerischer Integrität kaum die Rede sein kann. Aber ich wollte einfach erst einmal den Fuß in die Tür bekommen.« Seine Worte kamen immer schleppender, fast als stünde er unter Hypnose. »Und dann hätte ich weitermachen können. Ich hätte schreiben können nach meiner Lust. Ja, nach meiner Lust. Denn das ist es doch, was gutes Schreiben ist. Ein Akt der Lust. Ein Akt der Leidenschaft. Eine Art der Ekstase, von der andere nur träumen können, von der sie nicht einmal wissen, daß es sie gibt. Und diese Bilder - diese Bilder ...«
Corntel zeichnete die Körperformen eines der nackten Kinder nach. Sein Finger glitt zu dem Körper des erregten Mannes, spielte über den muskulösen Schenkel zu den Lenden, über die Brust zum Mund hinauf. Er nahm das nächste Bild und verfuhr auf ähnliche Art, verweilte mit einem träumerischen Lächeln bei der unnatürlichen Paarung.
Lynley beobachtete ihn schweigend. Er hätte, selbst wenn er etwas hätte sagen wollen, keine Worte gefunden. Corntel mochte sich mit seiner Absicht, den großen Roman zu schreiben, selbst etwas vorgemacht haben. Aber die Wahrheit zeigte sich im Ton seiner Stimme, in der Art, wie er sich mit der Zunge immer wieder über die Lippen fuhr. Eine Welle des Ekels erfaßte Lynley. Und dann folgte tiefes Mitleid.
Corntel schien sich seiner plötzlich bewußt zu werden. Er hob den Kopf und sah, daß Lynley ihn beobachtete. Hastig ließ er die Bilder fallen.
»O Gott«, flüsterte er.
Jetzt konnte Lynley wieder sprechen. »Ein kleiner Junge ist ermordet worden, John. Ein Junge, der nicht viel älter war als die Kinder auf diesen Bildern. Er wurde gefesselt. Er wurde gefoltert. Er wurde - weiß Gott, was noch.«
Corntel stand auf und ging zum Fenster. Der Blick ins Freie schien ihm neuen Mut zu geben. »Ich fing auf einer Fahrt nach London an, die Bilder zu sammeln«, sagte er, sich umdrehend. »Als ich das erste Mal eines sah - in der Abteilung einer Buchhandlung für Erwachsene in Soho -, war ich entsetzt. Aber auch fasziniert. Und angezogen. Ich kaufte es. Und dann weitere. Anfangs nahm ich sie nur in den Ferien heraus, wenn ich nicht in der Schule war. Dann erlaubte ich mir einen Abend im Monat in meinem Arbeitszimmer. Das erschien mir nicht so schlimm. Dann einen Abend pro Woche. Und schließlich sah ich sie mir beinahe jeden Abend an. Ich freute mich darauf. Ich -« Er sah wieder zum Fenster hinaus. »Ich schenkte mir ein Glas Wein ein und - und zündete Kerzen an - ich stellte mir vor ... Was ich dir zuerst erzählt habe, ist nicht soweit von der Wahrheit entfernt. Ich sponn Geschichten um die Bilder. Ich gab den Jungen Namen. Nur den Jungen. Den Männern nicht.«
Er ging zu den Bildern zurück. »Dieser Junge hieß Stephen«, sagte er und wies auf ein Kind, das geknebelt an ein altmodisches Messingbett gefesselt war. »Und das - das war Colin. Und den hier nannte ich Paul. Und Guy. Und William.« Er nahm das nächste Foto auf, stockte und sagte dann: »Und den hier, den nannte ich John.«
Es war das einzige Foto, auf dem zwei Erwachsene
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