03 - Auf Ehre und Gewissen
unternehmen, wenn jemand es wagte, gegen die Regeln zu verstoßen. Aber da Chas - der Schulpräfekt selbst - es war, der die Regeln mißachtete, wußte Matthew Whateley niemanden, an den er sich wenden konnte, wenn er ehrenhaft handeln wollte, ohne das ungeschriebene Gesetz des Zusammenhaltens zu verletzen, nach dem alle Schüler sich richteten. Er konnte gegen Chas nicht auf die gleiche Weise vorgehen wie gegen Clive Pritchard. Es würde ihm daher keine andere Wahl bleiben, als den Schulleiter zu unterrichten. Chas drohte die Entlassung aus der Schule wegen Cecilias Schwangerschaft; weil er den Kleinbus genommen hatte; weil er Clive Pritchard gedeckt hatte. Jede einzelne dieser Tatsachen hätte wahrscheinlich ausgereicht, sein Schicksal zu besiegeln. Alle drei zusammen würden ihm auf jeden Fall zum Verhängnis werden. Seine Zukunft lag in den Händen eines Dreizehnjährigen, der an die Ehre glaubte. Er konnte nur überleben, wenn er diese Bedrohung beseitigte.
»Ich vermute, Sie waren es, die Chas am Freitag abend mehrmals anrief«, sagte Lynley zu Cecilia. »Sie wußten, daß um diese Zeit immer der Oberstufen-Club tagte. Sie wußten, wo Sie ihn erreichen konnten. Warum haben Sie ihn angerufen?«
Cecilia weinte. »Das Baby.«
»Sie brauchten jemanden, mit dem Sie sprechen konnten«, sagte St. James. »Nicht wahr? Bei so einem Kummer hilft es nur, wenn man mit jemandem sprechen kann, den man liebt.«
»Er war - ich brauchte -«
»Sie brauchten ihn. Natürlich. Das ist doch ganz verständlich.«
»Ist er am Samstag zu Ihnen gekommen, Cecilia?« fragte Lynley.
»Bitte! Zwingen Sie mich nicht. Chas!«
Lynley sah Norma Streader an, aber die schüttelte den Kopf und sagte mit einem besorgten Blick auf Cecilia: »Ich war Samstag nicht hier. Ich - Cecilia, sag alles.«
»Chas hat nicht ... Er war nicht - Er würde niemals - Ich kenne ihn doch!«
»Wenn das zutrifft«, sagte Lynley, »dann brauchen Sie ihn doch nicht zu decken. Wenn er nur hier war, weil er Sie sehen wollte, Cecilia, warum wollen Sie dann die Wahrheit verschweigen? Zu welchem Zweck?«
»Er war es nicht!«
»Was geschah, als er kam? Wie spät war es?«
Ihr Gesicht war fleckig vom Weinen. »Er war es nicht. Ich weiß es. Ich kenne ihn.«
»Beweisen Sie es mir. Sagen Sie mir die Wahrheit.«
»Er war hier. Er war eine Stunde hier. Dann fuhr er wieder.«
»Sprach er vom Friedhof?«
»Nein. Nein! Chas hat Matthew nicht getötet. Er könnte niemals einen Menschen töten.«
»Aber Sie wissen den Namen des Jungen. Sie kennen ihn. Woher?«
Sie wandte sich ab.
»Er war hier. Heute. Wohin ist er von hier aus gegangen? Cecilia, um Gottes willen, wohin wollte er?«
Das Mädchen sagte nichts. Lynley überlegte verzweifelt, wie er sie davon überzeugen könne, daß es wichtig war, ihm die Wahrheit zu sagen. »Sagen Sie mir, wo er ist.«
»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Er wollte es mir nicht sagen. Ich hab ihm versprochen, daß ich ihn nie verraten würde, aber er wollte es mir nicht sagen. Er weiß, daß Sie ihn in Verdacht haben. Er kann darüber nur lachen. Ja, lachen! Er sagte, ich soll Ihnen ausrichten, daß er Ihnen auf einem Weg zum Ruhm vorausgehen wird. Ja, das hat er gesagt. Genau so. Und dann ist er gegangen.«
»Wann?«
»Vor einer Stunde. Laufen Sie ihm nach, wenn Sie wollen. Laufen Sie ihm ruhig nach.«
Lynley stand auf. Die Worte, die Chas ihnen hatte ausrichten lassen, brannten ihm in der Seele. Er hatte die Worte erkannt. Er hatte sie am Montag abend gelesen, als Deborah ihm Thomas Grays Gedicht gezeigt hatte.
Lynley wollte nicht verstehen, was Chas' Botschaft bedeutete. Er wollte seine plötzlichen Befürchtungen nicht vor dem Mädchen zeigen. Sie hatte schon genug ertragen.
Aber Cecilia schien etwas zu spüren. Als er ihr dankte und mit St. James zur Tür ging, folgte sie ihnen: »Was ist?« fragte sie. »Was wissen Sie? Sagen Sie es mir.«
Lynley sah Norma Streader an. »Behalten Sie sie hier«, sagte er.
Sie gingen in den Regen hinaus. Die Tür schloß sich hinter ihnen und schnitt Cecilias verzweifelte Schreie ab.
Lynley holte zwei Taschenlampen aus dem Kofferraum seines Wagens und gab sie St. James. »Schnell«, sagte er und klappte seinen Mantelkragen hoch.
Der Wind trieb ihnen den Regen in die Gesichter, als sie, so schnell es ging, die Auffahrt hinunterliefen und die Straße überquerten, um auf das Sträßchen zu gelangen, das zur Kirche führte. Sie war dunkel, verlassen, und das Licht der Straßenlaternen
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