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03 - Auf Ehre und Gewissen

03 - Auf Ehre und Gewissen

Titel: 03 - Auf Ehre und Gewissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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spiegelte sich in großen Wasserpfützen, die sich im Laufe des regnerischen Nachmittags gesammelt hatten, Äste, vom Wind gerüttelt, krallten sich in ihre Mäntel, die Erde neben dem gepflasterten Weg war matschig.
    Lynley wußte, daß St. James bei diesen Bedingungen mit dem Gehen große Schwierigkeiten hatte. Er wußte, daß er hätte bei ihm bleiben sollen, falls er stürzte. Aber als er sich nach St. James umdrehte, rief der: »Lauf zu! Ich komm schon zurecht!«
    Lynley begann zu rennen, getrieben von der Zeile aus dem Gedicht und dem, was sie bedeutete; getrieben von der Angst, die er in Cecilia Felds Stimme gehört hatte, und von der Erinnerung an die Hoffnungslosigkeit, die er an diesem Tag in Chas Quilters Gesicht gesehen hatte.
    Zum Grabe nur führt der Weg des Ruhms. Hatte sich das nicht für Chas bewahrheitet? Schulpräfekt, Kapitän der Rugbymannschaft, Mitglied der Cricketauswahl und des Tennisteams. Gutaussehend, bewundert, intelligent. Cambridge, Erfolg, Ansehen - alles garantiert.
    Lynley rannte durch das Friedhofstor und sah im Schein seiner Lampe ein durchweichtes Kleidungsstück, das zusammengeknüllt in einer Ecke lag. Er hob es auf. Es war eine Jacke der Schuluniform von Bredgar Chambers, ursprünglich blau, jetzt schwarz vor Nässe.
    Er sah gar nicht erst nach dem Namensschildchen im Futter, sondern schleuderte die Jacke weg und rannte weiter.
    »Chas!« schrie er laut. »Chas Quilter!«
    Er rannte auf die Kirche zu. Seine Schritte hallten laut auf dem Beton. Unentwegt schwenkte er seine Lampe von einer Seite zur anderen, aber sie erhellte nichts als gespenstisch wirkende Grabsteine und vom Regen niedergedrücktes Gras.
    Unter dem zweiten Tor lag wieder ein Kleidungsstück, ein gelber Pullover. Wie das erste war es in eine Ecke geschleudert worden, aber ein Ärmel hatte sich an einem hervorstehenden Nagel am Tor verfangen und schien wie ein Geisterarm zur Kirche zu weisen.
    »Chas!« Sein Schrei ging unter im Heulen des Windes.
    Er richtete den Lichtstrahl auf die Gräber. Er richtete ihn auf die Kirche. Er ließ ihn über die Fenster schweifen. Und rannte weiter.
    »Chas! Chas Quilter!«
    Der Sturm hatte ein Rosenbäumchen über den Weg geworfen. Lynley stolperte darüber, und seine Hose blieb an den Dornen hängen. Er hielt den Lichtstrahl nach unten, riß den Stoff los und richtete sich wieder auf. Bei der Bewegung glitt das Licht über etwas Weißes, das sich zu bewegen schien.
    »Chas!«
    Er verließ den Weg und rannte zwischen Gräbern hindurch auf die Gestalt zu, die er unter einer ausladenden Eibe beim Südwestportal der Kirche erkennen konnte. Weißes Hemd. Dunkle Hose. Es mußte Chas sein. Es konnte niemand anders sein. Aber die Gestalt war groß, viel zu groß. Und sie drehte und drehte sich unaufhörlich hin und her. Wie vom Wind bewegt. Wie im Wind baumelnd.
    »Nein!« Lynley warf sich die letzten zwanzig Meter vorwärts und packte die Beine des Jungen, um den Körper abzustützen. »St. James!« brüllte er. »Um Gottes willen. St. James!«
    Er hörte eine Antwort. Es kam jemand. Er starrte mit zusammengekniffenen Augen in den Regen. Aber die Person, die den Weg entlanggerannt kam und wie eine Wahnsinnige durch den Friedhof jagte, war nicht sein Freund. Es war Cecilia.
    Sie schrie. Sie flog über den Rasen. Sie umklammerte Chas. Sie hängte sich an Lynley, riß an seinen Armen, biß ihm in die Hände, um ihn zu zwingen, den Jungen loszulassen.
    »Chas!« schrie sie. »Nein!«
    Dann war St. James da und packte sie, zog sie weg, zerrte sie nach rückwärts. Sie wollte sich wehren, nach ihm schlagen, aber er hielt ihr die Arme fest auf den Rücken und drückte ihr Gesicht an seine Brust.
    »Laß sie!« schrie Lynley. »Faß den Jungen an. Halte ihn. Ich schneide den Strick ab.«
    »Tommy!«
    »Um Gottes willen, Simon, tu, was ich sage.«
    »Tommy -«
    »Wir haben keine Zeit.«
    »Er ist tot.« St. James richtete den Strahl seiner Lampe auf Chas Quilters Gesicht, und sie sahen die grausige Farbe der nassen Haut, die hervorquellenden Augen, die aufgeschwollene, heraushängende Zunge. »Es ist vorbei. Er ist tot.«

21
    Lynley suchte Cecilia in ihrem Zimmer auf. Norma Streader saß an ihrem Bett, eine Hand auf dem Arm des Mädchens, während sie sich mit der anderen die Tränen aus den Augen wischte. Ab und zu murmelte sie Cecilias Namen, aber es hatte den Anschein, als wolle sie mehr sich selbst trösten als das Mädchen, das ein Beruhigungsmittel bekommen hatte und nun vor sich

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