03 - Auf Ehre und Gewissen
Couch niedergelassen hatte, sagte sie: »Was kann ich für Sie tun, Inspector? Bitte, setzen Sie sich doch.« Zu dem Mädchen gewandt, fügte sie hinzu: »Sissy, ich glaube, du solltest dich wieder hinlegen, hm?«
Das Mädchen schien durchaus bereit zu gehen, aber Lynley hielt sie auf. »Wir sind hergekommen, um mit Cecilia zu sprechen.«
Cecilia war an der Tür stehengeblieben, die Arme immer noch über der Brust gekreuzt, als brauche sie Schutz. Bei Lynleys Worten kam sie ein paar Schritte ins Zimmer.
»Sie wollen zu Sissy?« fragte Mrs. Streader und musterte sie mit scharfem Blick. »Sie sind doch nicht im Auftrag ihrer Eltern hier? Die haben dem Kind wirklich genug Kummer gemacht, und wenn sie hier bei uns bleiben will, ist sie jederzeit willkommen. Ich habe das der Sozialarbeiterin gesagt, dem Anwalt, den -«
»Nein«, unterbrach Lynley. »Wir sind nicht im Auftrag ihrer Eltern hier.« Er sah Cecilia an. »Chas Quilter ist aus Bredgar Chambers verschwunden.«
Lynley sah, wie sie die Hände um die Arme krampfte. Aber sie sagte nichts.
»Was wollen Sie von Cecilia, Inspector?« fragte Norma Streader hastig. »Sie sehen doch, daß es ihr nicht gutgeht. Sie gehört ins Bett.«
»Ich kenne keinen Chas Quilter.« Cecilias Stimme war sehr leise.
Selbst Norma Streader schien überrascht bei dieser Antwort. »Sissy!« sagte sie.
Wieder unterbrach Lynley. »Aber natürlich kennen Sie ihn. Sehr gut sogar, denke ich. Ihr Foto steht in seinem Zimmer in der Schule. Die Strophe aus Matthew Arnolds Gedicht, die Sie für ihn abgeschrieben haben, hängt an seiner Wand. War er heute abend hier, Cecilia?«
Das Mädchen schwieg. Norma Streader wollte etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. Ihr Blick ging zwischen Cecilia und Lynley hin und her. Schließlich fragte sie: »Worum handelt es sich eigentlich?«
Lynley sah die Frau an. »Um Mord.«
»Nein!« Cecilia kam einen Schritt auf sie zu.
»Sie haben einander feste Treue geschworen, nicht wahr? Und daran haben Sie beide sich geklammert, Sie und Chas. Es hat Ihnen über die letzten Monate hinweggeholfen.«
Sie senkte den Kopf. Ihr Haar, das auf der Fotografie so schön war, hing strähnig und stumpf in ihr Gesicht.
»War er hier?« fragte Lynley.
Sie schüttelte den Kopf. Sie log. Er spürte es.
»Wissen Sie, wo er ist?«
»Ich habe Chas Quilter seit - ich weiß nicht, wie lange nicht gesehen. Seit Monaten nicht mehr.«
Norma Streader streckte dem Mädchen die Hand hin.
»Komm, Sissy. Setz dich. Setz dich, Kind. Du bist ja ganz wacklig.«
Cecilia setzte sich zu ihr aufs Sofa. Lynley und St. James nahmen in den Sesseln Platz. Ein Couchtisch stand zwischen ihnen mit zwei Gläsern darauf, das eine leer, das andere noch mit einem Rest Limonade.
»Wir müssen ihn finden, Cecilia«, sagte Lynley. »Sie müssen uns sagen, wann er hier weg ist. Sie müssen uns sagen, wo er ist.«
»Ich habe ihn nicht gesehen«, behauptete sie wieder.
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich weiß nichts von ihm.«
»Sie wollen ihn schützen. Das ist verständlich. Sie lieben ihn. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie ihn auch noch schützen wollen, wenn es um Mord geht.«
»Ich weiß nichts von ihm«, sagte sie wieder.
Lynley beugte sich vor. Er legte das medizinische Fachbuch auf den Tisch, aber er schlug es nicht auf. »Sie und Chas waren während Ihres Jahres in Bredgar Chambers zusammen, nicht wahr?« sagte er. »Sie trafen sich in der Dachkammer über dem Trockenraum im Haus Kalchas. Spät abends. An den Wochenenden. Wenn niemand da war. Sie bemühten sich, vorsichtig zu sein. Aber es hat nicht immer geklappt, nicht? Sie wurden schwanger. Sie hätten abtreiben können, aber ich habe den Eindruck, daß das für Sie und Chas keine Lösung war. Sie wollten beide das Rechte tun. Für sich und für das Kind. Darum gingen Sie unter dem Vorwand von Bredgar Chambers weg, daß Sie auf eine andere Schule wechseln würden. Cowfrey Pitt erzählte uns von einem Mädchen, das mit Ende des letzten Schuljahres unter fragwürdigen Umständen das Internat verließ. Dieses Mädchen müssen Sie gewesen sein. Sie taten es, um Chas Quilter zu schützen. Wenn jemand entdeckt hätte, daß Sie von ihm schwanger waren, wäre er aus der Schule ausgeschlossen worden. Seine beruflichen Pläne und die gemeinsame Zukunft, die Sie geplant hatten, wären in Scherben gewesen. Aber ich denke mir, Ihre Eltern waren nicht übermäßig erfreut, als Sie von einer Abtreibung nichts wissen
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