03 - Auf Ehre und Gewissen
wiederholte er perplex. »Wovon sprichst du?«
»Von Abtreibung«, antwortete sie. Mehr sagte sie nicht. Sie wußte, daß sie das nicht brauchte. Den Rest der Geschichte würde er sich selbst zusammenreimen.
Ja, sie sah es. Er zuckte zusammen. Sein Gesicht wurde bleich. Abrupt stand er von dem Hocker auf, auf dem er bisher gesessen hatte.
»Ich konnte es dir nicht sagen, Simon«, sagte sie leise.
»Und jetzt - ich habe alles kaputtgemacht.«
»Wußte er es?« fragte Simon wie betäubt. »Weiß er es jetzt?«
»Ich habe es ihm nie gesagt.«
Er ging einen Schritt auf sie zu. »Warum nicht? Er hätte dich geheiratet, Deborah. Er wollte dich doch heiraten. Glaubst du, es hätte ihm etwas ausgemacht, daß du schwanger warst? Er wäre überglücklich gewesen. Warum hast du es ihm nicht gesagt?« »Das weißt du genau.«
»Nein.«
»Deinetwegen.« Ihre Stimme war brüchig. »Du weißt, es war deinetwegen.«
»Was meinst du damit?« fragte er.
»Ich liebte dich, Simon! Nicht Tommy. Ich liebte dich. Das weißt du doch.« Sie fing an zu weinen. »Ich dachte - es war damals so - und du warst immer - ich wollte - du warst der einzige - immer. Aber ich war allein - und die Jahre, als du mir nie geschrieben hast ... Da kam er nach Amerika ... den Rest weißt du - ich habe nicht - er war nur jemand ...«
Sie hörte seine ungleichmäßigen Schritte. Im ersten Moment glaubte sie, er ginge aus dem Zimmer. Etwas anderes hatte sie ja nicht verdient. Aber dann war er bei ihr und nahm sie in die Arme.
Er hielt sie sehr fest. »Ich habe alles falsch gemacht. Und du mußtest es ausbaden, meine Angst, meine Zweifel, meine Verwirrung. Alles. Drei Jahre lang. Es tut mir so leid, mein Liebling.« Er hob ihr Gesicht. »Deborah, Liebes.«
Er streichelte ihr das Gesicht, wischte die Tränen fort und sagte immer wieder leise ihren Namen.
Sie begann wieder zu weinen. »Wie kannst du mir verzeihen? Wie kann ich das von dir verlangen?«
»Verzeihen?« Seine Stimme klang ungläubig. »Deborah, um Gottes willen, das ist sechs Jahre her. Du warst achtzehn. Du warst ein anderer Mensch. Die Vergangenheit ist nichts. Nur die Gegenwart und die Zukunft zählen. Das mußt du doch inzwischen wissen.«
»Ich weiß nicht - wie kann es je wieder so werden, wie es war? Wie soll es weitergehen?«
Er zog sie an sich. »Indem wir weitergehen.«
Feiner Nieselregen fiel auf die Trauergäste, die sich am Grab von Jimmy Havers auf dem Friedhof von South Ealing versammelt hatten. Man hatte ein Plastiküberdach aufgestellt, um Barbara Havers, ihre Mutter und ein halbes Dutzend älterer Angehöriger des Verstorbenen vor dem Regen zu schützen. Die anderen hatten Schirme aufgespannt. Ein Geistlicher sprach feierlich von Gottes Gnade. Er hielt die Bibel an seine Brust gedrückt, und seine Soutane war mit Schmutz bespritzt.
Es war das erste Mal, daß Lynley Havers' Mutter sah. Er hatte immer noch Mühe, sich an ihren Anblick zu gewöhnen und sich sein eigenes Widerstreben einzugestehen, mit der abgeschlossenen Welt von Barbara Havers' Privatleben in Berührung zu kommen. Er kannte Barbara seit Jahren, arbeitete seit achtzehn Monaten eng mit ihr zusammen, aber sie hatte stets jede Gelegenheit abgewehrt, die es ihm erlaubt hätte, sie außerhalb des Dienstes kennenzulernen, und er hatte es ganz ohne Protest hingenommen. Es war, als hätte er die ganze Zeit gewußt, welche Geheimnisse sie zu verbergen hatte, und sei nur zu bereit gewesen, diese Geheimnisse bis in alle Ewigkeit zu akzeptieren.
Eines der Geheimnisse war sicherlich ihre Mutter gewesen. In einen viel zu langen schwarzen Mantel gekleidet, der ihr um den mageren Körper schlotterte, hing sie lächelnd, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, an Barbaras Arm. Sie schien nicht zu wissen, daß dies das Begräbnis ihres Mannes war. Sie warf zaghafte Blicke auf die Leute, die rund um das offene Grab standen, sprach ab und zu flüsternd mit ihrer Tochter und streichelte ihr unaufhörlich den Arm. Barbaras einzige Reaktion war, ihrer Mutter ab und zu die Hand zu tätscheln. Ihre Aufmerksamkeit galt den Worten des Geistlichen. Ihr Gesicht war ruhig und gefaßt, während sie den Blick auf den Sarg gerichtet hielt und der Rede des Geistlichen lauschte.
Lynley konnte das nicht. Er fand Halt nur im Hier und Jetzt. Gebete für die Ewigkeit bedeuteten ihm nichts. Ohne hinzuhören, ließ er den Blick über die Trauergäste schweifen.
Auf der anderen Seite des Grabes standen Simon und Deborah gemeinsam unter einem
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