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03 - Auf Ehre und Gewissen

03 - Auf Ehre und Gewissen

Titel: 03 - Auf Ehre und Gewissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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sie direkt neben seinem Sessel stand.
    »O Gott, o Gott.« Sie suchte den Lichtschalter.
    Er war wahrscheinlich irgendwann am frühen Nachmittag gestorben. Sein Körper war schon kalt, die Leichenstarre hatte eingesetzt. Trotzdem stürzte sich Barbara auf den Sauerstoffbehälter, drehte wie eine Verrückte an den Knöpfen.
    Hätte sie ihn doch aus dem Sessel heben, auf den Boden legen können.
    Das tonlose Summen ihrer Mutter näherte sich. »Ich habe ihm Suppe gebracht, Kind. Genau, wie du gesagt hast. Um halb eins. Aber er hat sich nicht gerührt. Ich habe ihn gefüttert. Ich habe sie ihm in den Mund geschoben.«
    Barbara sah den Fleck auf dem Hemd ihres Vaters. »O Gott, o Gott«, flüsterte sie wieder.
    »Ich wußte nicht, was ich tun soll. Drum bin ich zur Treppe gegangen und hab gewartet. Ich habe mich auf die Treppe gesetzt und gewartet. Ich wußte, daß du kommst, Kind. Ich wußte, daß du dich um Dad kümmerst. Aber weißt du -« Doris Havers blickte in Verwirrung von Barbara zu ihrem Mann. »Er wollte die Suppe nicht essen. Er hat nicht einmal geschluckt. Ich habe ihm welche in den Mund geschoben. Aber er hielt den Mund zu. Du mußt essen, Jimmy, habe ich gesagt, aber er hat mir nicht einmal geantwortet. Und -«
    »Er ist tot, Mama. Dad ist tot.«
    »Da hab ich ihn schlafen lassen. Er braucht die Ruhe, nicht? Das hast du selber gesagt. Und ich hab mich auf die Treppe gesetzt und gewartet.«
    »Seit halb eins, Mutter?«
    »Das war doch richtig, nicht, Kind? Ich meine, auf der Treppe zu warten.«
    Barbara sah das faltige Gesicht ihrer Mutter, den sehnigen Hals, die leeren Augen, das ungekämmte Haar. Sie konnte nichts anderes denken als immer nur dieselben Worte: o Gott, o Gott. Sie drückten alle ihre Gefühle aus. Ihre ganze Hoffnungslosigkeit.
    »Wir können nicht in den Zoo fahren«, sagte ihre Mutter. »Jetzt können wir uns die Lamas nicht ansehen, Kind.«

    Das Läuten des Telefons riß Deborah aus dem Schlaf. Es läutete nur einmal, dann wurde in einem anderen Teil des Hauses abgenommen. Sie streckte automatisch den Arm zur Seite, spürte die Leere neben sich im Bett und sah auf die Uhr. Es war zwanzig nach drei.
    Sie hatte Simon kurz nach eins zurückkommen hören und hatte in der Dunkelheit auf ihn gewartet. Aber er war nicht gekommen, und sie war schließlich in einen unruhigen Schlaf gefallen. Jetzt sah sie, daß er überhaupt nicht zu Bett gekommen war. Wie in der Nacht zuvor, was er damit begründet hatte, daß er bis tief in die Nacht im Labor gearbeitet, sie nicht habe stören wollen und deshalb im Gästezimmer geschlafen habe.
    Diese zweite Nacht ohne ihn löste in ihr ein furchtbares Gefühl von Leere und Verlassenheit aus. Sie fühlte sich ungeborgen, ausgesetzt, klein und unbedeutend, völlig allein. Einen Moment lang blieb sie liegen und versuchte sich einzureden, daß diese Spaltung doch gut sei. Aber sie fühlte nur Trostlosigkeit und fand in dem nächtlichen Anruf einen willkommenen Vorwand.
    Sie schlüpfte in ihren Morgenrock und ging aus dem Zimmer. Es war still im Haus, aber irgendwo über sich hörte sie Simons Stimme. Sie ging ihr nach.
    Als sie ins Labor kam, hatte er das Telefongespräch schon beendet. Er blickte überrascht auf, als sie von der Tür her seinen Namen rief.
    »Das Telefon hat mich geweckt«, erklärte sie. »Ist etwas passiert?« Sie dachte an seine Familie. Aber wenn er auch ernst aussah, so wirkte er doch nicht tiefer berührt.
    »Es war Tommy«, antwortete er. »Barbara Havers' Vater ist heute gestorben.«
    »Ach, wie schlimm für sie, Simon.« Sie ging ins Zimmer und blieb neben ihm an seinem Arbeitstisch stehen. Darauf ausgebreitet lag ein polizeilicher Bericht, den er zu überprüfen hatte. Die Arbeit würde ihn mehrere Wochen in Anspruch nehmen, ganz gewiß hätte er damit nicht noch heute nacht anfangen müssen.
    »Das tut mir wirklich leid. Können wir irgend etwas für sie tun?«
    »Im Moment nichts. Tommy gibt uns Bescheid. Aber Barbara war in persönlichen Dingen immer ziemlich zurückhaltend. Ich glaube nicht, daß sie uns viel tun lassen wird.«
    »Ja. Natürlich.« Sie griff nach dem toxikologischen Befund, nahm ihn und starrte ohne Verständnis auf das Durcheinander von Worten. »Bist du schon lange wieder da? Ich habe geschlafen. Ich habe dich gar nicht kommen hören.« Eine harmlose Lüge, gewiß keine schwerere Sünde als manche andere, die auf ihrem Gewissen lastete.
    »Seit zwei Stunden.«
    »Ach.«
    Mehr schien es nicht zu sagen zu geben.

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