03 - Auf Ehre und Gewissen
Schon bei Tag war es ihnen schwer genug, höfliche Konversation zu machen. In der Nacht, wo Müdigkeit und Erschöpfung ihre Fähigkeit schwächten, das, was sie bewegte, hinter freundlichen Floskeln zu verbergen, war es unmöglich. Dennoch wollte sie nicht gehen, und sie brauchte gar nicht zu überlegen, um zu wissen, woher dieser Widerstand, ihn zu verlassen, kam.
An dem Abend in ihrem alten Zimmer hatte sein Gesicht ihr verraten, daß er an ein Hirngespinst glaubte, das sie ein für allemal vertreiben mußte. Es gab nur ein Mittel, ihn sich selbst wiederzugeben. Sie wußte nicht, ob sie die Kraft haben würde. Es schien soviel leichter, einfach weiterzumachen und zu hoffen, daß sie irgendwie wieder den Weg zueinander finden würden. Doch jetzt erschien diese bequeme Lösung unwahrscheinlich. Mehr noch, sie anzustreben schien feige. Dennoch fand sie keinen Anfang.
Ohne ersichtlichen Grund begann Simon zu sprechen. Den Blick auf die Papiere und Geräte auf dem Arbeitstisch gerichtet, erzählte er ihr von dem Fall, den Lynley bearbeitet hatte. Er sprach von Chas Quilter und Cecilia Feld, von Brian Byrne, von Matthew Whateleys Eltern und ihrem kleinen Haus in Hammersmith. Er schilderte die Schule. Er beschrieb ihr die Ereignisse, die sich in Bredgar Chambers zugetragen hatten, und Deborah begriff nach einer Weile, daß er sprach, um sie zurückzuhalten. Diese Erkenntnis gab ihr Hoffnung.
Sie hörte ihm zu und sagte, als er geendet hatte: »Diese armen Leute. Es gibt nichts Schlimmeres ...« Sie wollte nicht mehr weinen. Sie wollte nicht mehr trauern. Aber es hörte nicht auf. Sie zwang sich zur Konfrontation. »Was kann es Schlimmeres geben, als ein Kind zu verlieren?«
Erst da hob er den Kopf. Sie sah die Furcht und den Zweifel in seinem Gesicht. »Einander zu verlieren.«
Sie hatte Angst zu sprechen, aber sie überwand sich.
»Haben wir einander verloren?«
»Es sieht so aus.« Er räusperte sich, schluckte. Unruhig griff er zu einem Mikroskop und drehte an seinem Einstellrad. »Du weißt« - sein Ton war leicht, aber sie sah, was ihn diese Leichtigkeit für Kraft kostete - »es kann sehr gut meine Schuld sein, Deborah, und nicht deine. Weiß Gott, was der Unfall noch alles angerichtet hat, außer -«
»Nein.«
»Oder vielleicht handelt es sich um einen genetischen Defekt, den ich weitergebe, so daß du mein Kind nicht austragen kannst.«
»Simon, Liebster. Nein.«
»Mit einem anderen Mann würdest du vielleicht ...«
»Simon! Nicht!«
»Es wäre ganz natürlich«, fuhr er sachlich fort, als kosteten ihn diese Worte überhaupt nichts. »Wenn du Tommy geheiratet hättest, wie er sich das damals so sehr wünschte, hättest du vielleicht längst ein Kind.«
»Nein, Simon. Ich habe nicht ein einziges Mal daran gedacht, wie alles geworden wäre, wenn ich Tommy geheiratet hätte.«
Sie starrte auf den Tisch, ohne irgend etwas wahrzunehmen, während sie den Mut suchte, weiterzusprechen und alles zu sagen. Sie wußte, er glaubte ihr nicht.
Langsam schob er die Papiere auf dem Tisch zusammen. Sie sah, daß er einen der Drucker nicht ausgeschaltet hatte, und zögerte die Entscheidung hinaus, indem sie hinging, ihn ausschaltete und gewissenhaft die Haube darüber zog. Als sie sich wieder umdrehte, war sein Blick auf sie gerichtet. Sein Gesicht war angestrahlt vom Licht der starken Lampe auf seinem Arbeitstisch. Sie selbst stand im Schatten. Sie wußte, daß die Dunkelheit die Regungen ihres Gesichts verbarg.
»Sie lebten glücklich und zufrieden, bis an ihr Lebensende. So hatte ich es mir gedacht. Aber so kam es nicht«, sagte sie. Ihre Hände waren feucht. Ihre Augen brannten. »Wir beide haben uns geliebt. Wir heirateten. Ich wollte ein Kind von dir. Ich hielt es für selbstverständlich, daß alle meine Hoffnungen sich erfüllen würden. Aber so kam es nicht. Ich versuche, mich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, daß ich vielleicht niemals ein Kind haben werde. Und mit der Tatsache ...« Sie spürte ihren Widerstand weiterzusprechen. Es war, als verhärte sich ihr Körper. Sie kämpfte dagegen an. »Und mit der Tatsache, daß es einzig meine eigene Schuld ist. Ich habe es mir selbst angetan.«
Er wehrte ihre Worte mit einer Handbewegung ab.
»Niemand hat Schuld, Deborah. In so einer Situation kann man niemandem Schuld geben. Ich verstehe nicht, warum du es unbedingt tun willst.«
»Weißt du - ich habe damals ganz einfach nicht darüber nachgedacht. Ich war gerade erst achtzehn.«
»Achtzehn?«
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