03 - Auf Ehre und Gewissen
Schirm. Neben ihnen sah er Superintendent Webberly, der, die Hände in den Manteltaschen, barhäuptig im Regen stand. Hinter ihm waren mehrere Kollegen von Scotland Yard, unter ihnen Constable Nkata. Sie waren Barbara zuliebe gekommen. Ihren Vater hatten sie nicht gekannt.
Jenseits dieser kleinen Gruppe pflanzte eine Frau mit rosafarbenen Gummihandschuhen eifrig Blumen auf ein Grab. Sie nahm keine Rücksicht auf den Trauergottesdienst, sondern rannte in ihren quietschenden Gummistiefeln herum, als sei sie allein auf weiter Flur. Nur einmal sah sie von ihrer Arbeit auf, als ein Auto sich auf dem breiten Weg näherte, der von der South Ealing Road in den Friedhof hineinführte. Eine Tür wurde geöffnet und geschlossen. Das Auto fuhr wieder ab. Rasche Schritte klapperten auf Pflastersteinen. Ein arg verspäteter Trauergast war gekommen, um sich in die kleine Gemeinde am Grab einzureihen.
Lynley sah, daß Havers aufmerksam geworden war. Ihr Blick flog vom Geistlichen zu der Person, die sich hinten an die Gruppe angeschlossen hatte, und dann, beinahe automatisch, zu ihm. Sie wandte den Blick sofort wieder ab, aber nicht schnell genug. Er kannte Havers. Er kannte sie gut. Er wußte, wer gekommen war. Hätte er es nicht an Havers' Reaktion erkannt, so hätten die Gesichter Simons und Deborahs es ihm verraten. Zweifellos waren sie es gewesen, die in Korfu angerufen hatten.
Es war wirklich Helen, die am Rand der Gruppe stand. Lynley wußte es. Er fühlte es. Er brauchte sich nicht einmal umzudrehen, um sich zu vergewissern. Er fühlte ihre Anwesenheit, wenn sie in seiner Nähe war, und so würde es immer sein. Zwei Monate Trennung hatten daran nichts geändert. Auch zwanzig Jahre würden es nicht.
Der Geistliche schwieg, trat vom Grab zurück. Der Sarg wurde hinuntergelassen. Havers zog ihre Mutter näher an das offene Grab und führte ihr die Hand, so daß sie einen Strauß Frühlingsblumen hineinwerfen konnte, den sie während des ganzen Gottesdienstes in der Hand gehalten hatte. Auf dem Weg zur Kapelle hatte sie ihn zweimal fallen lassen. Jetzt waren die Blumen schmutzig und ließen die Köpfe hängen. Sie fielen aus ihrer Hand und waren rasch vom Regen durchweicht.
Der Geistliche sprach ein abschließendes Gebet, sprach kurz mit Havers und ihrer Mutter und trat zur Seite. Die Trauergäste kamen näher, um ihr Beileid auszudrücken.
Lynley schaute nur zu. Simon und Deborah, Webberly und Nkata. Nachbarn, Kollegen und entfernte Verwandte. Er blieb am Grab stehen. Er blickte hinunter. Stumpf glänzte das Licht auf der kleinen Messingplakette auf dem Sargdeckel. Jetzt, da er von den Zwängen des Beerdigungsrituals frei war, da er sich nur umdrehen und auf Helen zugehen brauchte, war er wie gelähmt. Selbst wenn er es schaffen würde, harmlose Belanglosigkeiten zu äußern, nur um Helen davon abzuhalten, gleich wieder zu gehen, konnte er nicht hoffen, daß sein Gesicht nicht verriet, was er zu verbergen wünschte.
Zwei Monate hatten nichts geändert.
»Tommy.«
Er hatte die Augen niedergeschlagen und sah zuerst ihre Schuhe. Trotz seiner Bedrängnis mußte er lächeln. Typisch Helen: total unpraktisch, sehr schick, eine äußerst sparsame Komposition raffiniert zusammengesetzter Lederfleckchen, die bei diesem Wetter völlig fehl am Platz war; eine Form, in die nur ein Masochist freiwillig seine Füße gepreßt hätte.
»Wie kannst du nur in diesen Dingern laufen, Helen?« fragte er. »Das muß ja eine Qual sein.«
»Eine Höllenqual«, bestätigte sie. »Mir tun die Füße so weh, daß der Schmerz bis in die Augen hinaufzieht. Eine einzige Folter, sage ich dir. Wenn Krieg wäre, hätte ich dem Feind längst alles verraten, was er wissen will.«
Er lachte leise und hob den Kopf, um sie anzusehen. Sie war unverändert. Das glänzende kastanienbraune Haar, die dunklen, sprühenden Augen, die gerade, stolze Haltung ihres Körpers.
»Bist du heute morgen aus Griechenland gekommen?« fragte er.
»Es war der erste Flug, den ich kriegen konnte. Ich bin direkt vom Flughafen hergefahren.«
Das war die Erklärung für das leichte, pfirsichfarbene Kleid, ein Frühlingshauch, der zu einer Beerdigung völlig unpassend war. Er zog seinen Trenchcoat aus und reichte ihn ihr.
»Sehe ich so gräßlich aus?« fragte sie.
»Keineswegs. Aber du wirst naß. Deine Schuhe sind wahrscheinlich für immer hinüber, aber das ist kein Grund, auch noch das Kleid zu ruinieren.«
Sie schlüpfte in den Mantel, der ziemlich absurd an ihr
Weitere Kostenlose Bücher