03 - Auf Ehre und Gewissen
Hammersmith. Er war in West Sussex auf dem Internat. In Bredgar Chambers.«
»Durchgebrannt?«
»Möglich. Wie dem auch sei, der Junge wurde erst einige Zeit nach Eintritt des Todes auf den Friedhof gebracht.«
»Ja, das habe ich gesehen.«
»Und sonst?« fragte Lynley. »Wie genau hast du dir den Leichnam angesehen, Simon?«
»Nur flüchtig.«
»Aber du hast gesehen -« Lynley zögerte mit seinem Blick auf Deborah. »Ich habe gestern abend mit Canerone telefoniert.«
»Ich nehme an, er hat dir von den Brandmalen berichtet. Ja, die habe ich auch gesehen.«
Lynley runzelte die Stirn und drehte ein leeres Reagenzglas hin und her, das auf dem Labortisch lag. »Canerone sagte mir, daß sie in Slough derzeit überlastet sind und wir daher den Autopsiebefund erst in ein, zwei Tagen erwarten können. Aber das Ausmaß der Brandverletzungen ließ sich schon bei der ersten Untersuchung feststellen.«
»Ich nehme an, sie stammen von Zigaretten. So sahen sie jedenfalls aus.«
»An den Innenarmen, den Oberschenkeln, den Hoden und im Naseninneren.«
»Mein Gott!« murmelte Deborah entsetzt.
»Wir haben es hier mit sexueller Perversion zu tun, Simon. Das wird noch offenkundiger, wenn man berücksichtigt, was für ein hübscher kleiner Junge Matthew Whateley war.« Er stand auf. »Ich werde nie verstehen, wie ein Mensch ein Kind töten kann. Da gibt es Millionen, die sich verzweifelt ein Kind wünschen, und -«
Abrupt brach er ab. »Oh! Bitte entschuldigt! Das war wirklich das Dümmste -«
Deborah fiel ihm ins Wort. Sie sprach hastig, ohne Überlegung, ohne an der Antwort wirklich interessiert zu sein. »Wo fängst du bei so einem Fall an, Tommy?«
Lynley sah sie an, dankbar, daß sie ihnen über diesen Moment hinweggeholfen hatte. »In Bredgar Chambers. Sobald Havers erscheint.«
In diesem Moment läutete es.
Von Wäldern und Wiesen umgeben, stand Bredgar Chambers inmitten eines etwa zweihundert Morgen großen Geländes am Rand des St. Leonard's Forst in West Sussex, ein idealer Ort für ernsthaftes Studium. Es gab keinerlei äußere Ablenkungen. Cissbury, das nächste Dorf, war fast zwei Kilometer entfernt und hatte nicht mehr zu bieten, als einige Wohnhäuser, ein Postamt und ein Gasthaus; es gab im Umkreis von etwa acht Kilometern keine größere Durchgangsstraße, und die schmalen Landstraßen rundherum waren kaum befahren. Die wenigen isoliert stehenden kleinen Landhäuser in der Umgebung waren fast ausnahmslos von Leuten bewohnt, die hier auf dem Land ihren Ruhestand genießen wollten und sich für das Leben an der Schule nur am Rande interessierten. Im weiteren Umkreis gab es abgesehen von ein paar Gehöften nur wellige grüne Hügel und weite Wälder. Die Schulleitung konnte also hoffnungsvollen Eltern mit gutem Gewissen versprechen, daß ihren Sprößlingen in diesem Milieu klösterlicher Zurückgezogenheit Allgemeinbildung, gute Manieren, sittliches Verhalten und religiöse Denkungsart gründlich eingeimpft werden würden.
Bredgar Chambers als solches jedoch hatte nichts Asketisches. Dazu war es zu reich an heiterer Schönheit. Man näherte sich der Schule auf einer langen, sanft gewundenen Auffahrt, die an einem schmucken Pförtnerhäuschen vorbei unter alten Buchen und Eschen dahinführte, über denen jetzt schon der erste grüne Schleier des Frühlings lag. Zu beiden Seiten der Auffahrt dehnten sich gepflegte Rasenflächen, deren Gleichmaß hier und dort von vereinzelt stehenden Baumgruppen unterbrochen wurde, zu den Flintsteinmauern, die das Schulgelände eingrenzten. Die Bauten waren nicht typisch für diesen Teil des Landes, wo üblicherweise mit örtlich behauenem Flintstein gebaut wurde. Sie waren aus einem honigfarbenen Gestein errichtet, das aus Somerset herbeigeschafft worden war, und ihre Dächer waren mit Schiefer gedeckt. Keine Kletterpflanzen begrünten sie, und in der Morgensonne schienen die Quadersteine ihrer Mauern eine fühlbare Wärme abzustrahlen.
Lynley spürte Barbara Havers' Mißbilligung, sobald sie das Pförtnerhäuschen passierten. Und sie zögerte nicht lange, ihr Ausdruck zu geben.
»Entzückend«, sagte sie und drückte ihre Zigarette aus. Sie hatte, seit sie aus London abgefahren waren, eine nach der anderen geraucht. In seinem Bentley stank es wie nach einem Großbrand. »Ich wollte schon immer mal sehen, wo die Elite ihre kleinen Gören zur feinen englischen Art heranziehen läßt.«
»Ich vermute, drinnen geht es um einiges spartanischer zu, Havers«, versetzte er.
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